Eva Markert

Herzenswut


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Fünf in Mathe fix und fertig war. Sie versuchte, sich dieses Ereignis in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Wie seine Arme sich angefühlt hatten, der Druck seiner Hand. Plötzlich wünschte sie sich heftig, sie könnte ihren Kopf an seine Brust legen.

      Sina überlegte, wie sie ihn unauffällig dazu bewegen könnte, sie in den Arm zu nehmen. Sollte sie einfach den ersten Schritt tun und ihn umarmen? Wer weiß, möglicherweise würde ihm das sogar gefallen.

      Da hörte sie, dass Jörg und ihre Mutter zurückkamen. Sie tuschelten und lachten leise auf dem Flur. Jetzt oder nie! Sina schwang die Beine aus dem Bett. Sie würde beide mit einer Umarmung begrüßen. Plötzlich wurde es draußen ganz still. Sicher küssten sie sich gerade. Nein, das musste sie nicht haben! Schnell schlüpfte Sina wieder unter die Bettdecke.

      Sie schloss die Augen. Ihre Mutter, die Glückliche, hatte es gut! Es musste herrlich sein, von Jörg geküsst zu werden! Ehe sie es sich versah, fing sie an zu träumen: Sie schmiegte ihre Wange an sein Gesicht, Jörg sagte: „Mein Liebling!“ Und dann ...

      Stopp! Erschrocken riss sie die Augen auf. Das ging zu weit! Entschieden zu weit! Sie durfte keinesfalls vergessen, dass er der Freund ihrer Mutter war! Wohlgemerkt: ihrer Mutter! Sie knipste das Licht an, um noch ein wenig zu lesen.

      Am nächsten Morgen war Jörg noch da. „Ich muss übrigens am Samstag zu einer Fortbildung“, teilte die Mutter ihnen beim Frühstück mit.

      Es machte Sina nichts aus, einen Tag allein zu sein. Im Gegenteil, sie fand es ganz angenehm, wenn sie tun und lassen konnte, was sie wollte: im Bett liegen, stundenlang mit Jenny telefonieren, Mahlzeiten ausfallen lassen – und niemand war da, der ihr Vorschriften und Striche durch irgendwelche Rechnungen machte oder Sachen sagte, die sie nicht hören wollte.

      „Jörg hat angeboten ...“, begann die Mutter.

      Sina horchte auf.

      „... sich am Samstag um dich zu kümmern.

      „Natürlich nur, wenn du einverstanden bist“, setzte Jörg hinzu.

      „Ich bin einverstanden“, antwortete Sina hastig. Es klang ganz gequetscht, weil sie verbergen wollte, wie überwältigt sie von diesen Aussichten war. Einen ganzen Tag lang allein mit Jörg! Das war beinahe zu schön, um wahr zu sein!

      „Nett, dass du mir Gesellschaft leisten willst“, sagte Jörg. „Dann können wir gemeinsam auf deine Mutter warten.“

      „Mm“, murmelte Sina und hoffte, dass sie sehr, sehr lange auf sie würden warten müssen.

      In den folgenden Tagen dachte sie oft an diese Verabredung. Dabei ging ihr einiges durch den Kopf. Zum Beispiel, dass es Jörgs Idee gewesen war, die Zeit mit ihr zu verbringen. Das war der Beweis, dass er sie gut leiden mochte. Nur gut leiden? Oder bedeutete sie ihm mehr, als er sich eingestehen wollte?

      Einerseits konnte sie den Samstag kaum noch erwarten, andererseits war sie ziemlich aufgeregt. Hoffentlich langweilte er sich nicht mit ihr! Hoffentlich passierte ihr kein Missgeschick! Hoffentlich kam nichts dazwischen. Hoffentlich ...

      „Hör auf, dir ständig Sorgen zu machen“, rief sie sich selbst zur Ordnung. „Kümmere dich lieber darum, dass es ein Erfolg wird!“

      Zunächst mal das Wichtigste: Was sollte sie anziehen? Es musste etwas Schickes sein. Er hatte neulich gesagt, dass ihm ihr rosa T-Shirt mit der großen, schwarzen Blume vorne drauf und den Pailletten gefiel. Das würde sie nehmen. Und Jeans. Die passten zu jeder Gelegenheit. Er trug ebenfalls meistens Jeans.

      Als der Samstag endlich kam, wachte Sina vor lauter Aufregung schon gegen fünf auf. Jörg würde sie erst gegen Mittag abholen, deshalb versuchte sie wieder einzuschlafen. Es klappte nicht. Notgedrungen stand Sina kurz vor halb sieben auf.

      Je mehr es auf zwölf Uhr zuging, desto zappeliger wurde sie. Dem Badezimmer musste sie mehrere brandeilige Besuche abstatten.

      Als es um fünf vor zwölf klingelte, klopfte ihr Herz zum Zerspringen.

      „Hi, Jörg“, begrüßte sie ihn atemlos.

      Zum Glück schien er ihre Aufregung nicht zu bemerken. „Hast du Lust, mit mir essen zu gehen?“, fragte er. „Ich habe nämlich Hunger.“

      Sina musste daran denken, wie oft sie sich das schon gewünscht hatte.

      „Oder ist das eine schlechte Idee?“, fügte er hinzu. „Ich weiß ja, was du von Essen und von Restaurants hältst.“

      „Nein, nein“, stammelte sie, „das geht schon in Ordnung.“

      „Prima. Such dir aus, wohin wir gehen.“

      Es gab ein Gericht, das sie gern aß, oder genauer gesagt, weniger ungern als alles andere: Pizza. „Sollen wir ins San Marco gehen?“, schlug sie deshalb vor.

      „Einverstanden. Eine sehr gute Wahl.“

      In der Pizzeria stellten sie fest, dass sie beide am liebsten Pizza Tonno aßen. Sina fand das einigermaßen erstaunlich, wenn man bedachte, wie viele verschiedene Pizzen es gab.

      Als die Pizza gebracht wurde, bekam sie einen Schreck. Du lieber Himmel, das war ja ein Wagenrad! Nie im Leben würde sie das aufessen können!

      Jörg deutete ihren Gesichtsausdruck richtig. „Du brauchst nur so viel zu essen, wie du magst“, beruhigte er sie.

      Sina nahm ein paar kleine Bissen, und weil sie nicht gefrühstückt hatte, rutschte es verhältnismäßig gut.

      Inzwischen fühlte sie sich ein bisschen entspannter. „Du warst also schon mal verheiratet?“, erkundigte sie sich.

      Erstaunt blickte er sie an. „Wie kommst du jetzt darauf?“

      „Mama hat das gesagt. Es fiel mir gerade ein.“

      Er nickte. „Stimmt.“

      „Und wieso hast du dich scheiden lassen?“

      Eine Wolke schien über sein Gesicht zu ziehen.

      Sina wurde unsicher. „Entschuldige“, bat sie, „ich will keinesfalls neugierig sein.“

      „Das bist du aber.“ Er lächelte ein wenig schief.

      „Du ... brauchst natürlich keine Antwort zu geben, wenn du nicht willst“, stammelte Sina. „Ich dachte bloß ... Ich frage mich ... Warum lässt sich eine Frau von dir scheiden? Ich meine ... Ich würde das nie tun!“

      Hilfe! Sina biss sich auf die Lippen. Zu spät. Es war ihr schon herausgerutscht.

      Jörg legte sein Besteck ab. „Weder meine Ex-Frau noch ich haben Schuld daran. Wir waren nur beide der Meinung, dass es besser für uns ist, wenn wir uns trennen.“

      „Wieso?“

      Er schaute sie ein wenig vorwurfsvoll an. „Du willst es aber ganz genau wissen.“

      Sina errötete.

      „Wir waren noch sehr jung, als wir heirateten“, erklärte Jörg. „Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir gar nicht mehr zueinanderpassen. Wir hatten uns auseinandergelebt.“

      „Triffst du sie noch ab und zu?“

      Er schüttelte den Kopf. „Sie ist wieder verheiratet und lebt inzwischen in der Schweiz. Wir mailen gelegentlich oder telefonieren, zum Beispiel zum Geburtstag.“

      „Findest du es schlimm, dass sie einen neuen Mann hat?“

      Jörg überlegte nicht lang. „Nein. Es freut mich für sie.“

      „Warst du traurig, als ihr euch getrennt habt?“

      Er lehnte sich zurück und blickte in die Ferne. „Die erste Zeit danach fand ich schlimm. Es ist immer bitter, wenn eine Beziehung zerbricht. Aber ich wusste, dass wir das Richtige taten.“

      Ehe Sina eine weitere Frage stellen konnte, fügte er lächelnd hinzu: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich richtiggehend verhörst.“

      „Tut