„Ja. Schrecklicher Kerl!“
„Na hör mal!“, rief Jörg empört. „Willst mich etwa mit ihm vergleichen?“
Oh je! War er ihr jetzt böse? Ängstlich schielte sie zu ihm hinüber. Gott sei Dank, nein. Er grinste. Sie lachte erleichtert auf. „Das würde mir nicht im Traum einfallen, denn du bist viel, viel netter als er.“
„Na, dann bin ich ja beruhigt!“
Sie unterhielten sich noch über alles Mögliche. Es ging wie von selbst, nie musste man überlegen, was man als Nächstes sagen könnte.
Fast ohne es zu merken, verdrückte Sina ein Viertel ihrer Mammutpizza. Jörg verputzte seine und noch den größten Teil von Sinas. Er konnte wirklich unglaublich viel essen.
„Wie kommt es, dass du so schlank bist?“, fragte sie ihn.
„Ehrlich gesagt, wundert mich das. Früher hatte ich viel mehr Bewegung. Inzwischen verbringe ich die meiste Zeit am Schreibtisch, im Auto oder bei Kundenbesuchen. Trotzdem halte ich mein Gewicht. Anscheinend habe ich keine Veranlagung, dick zu werden.“
„Du hast es gut“, seufzte Sina und meinte, dass Jörg froh sein konnte, dass es ihm leichtfiel zu essen.
Jörg verstand ihre Bemerkung falsch. „Wie meinst du das?“, hakte er nach. „Du bist doch auch nicht dick. Im Gegenteil.“
„Findest du mich zu dünn?“
„Was ich finde, ist völlig egal. Dass du gesund bist, das ist das Entscheidende. Und wie du dich selbst findest. Du musst mit deinem Äußeren zufrieden sein.
Sina überlegte. War sie mit ihrem Aussehen zufrieden? Teils – teils. Am wichtigsten war ihr, dass sie ihm gefiel. Er sollte sie hübsch finden.
„Hast du Lust, ins Kino zu gehen?“, fragte er in ihre Gedanken hinein.
Na und ob! Neben ihm im Dunkeln zu sitzen, ganz dicht beieinander ... Wie oft hatte sie sich das schon ausgemalt! „Au ja!“, rief sie und in ihrer Stimme klang Begeisterung mit. „Ich liebe Kino!“
Er lachte. „Kein Wunder. Diese Kinoleidenschaft hast du bestimmt von deiner Mutter.“
Eifrig raffte Sina ihre Sachen zusammen und stand auf.
„Willst du gar nicht wissen, was für ein Film gerade läuft?“, setzte er hinzu.
Eigentlich war Sina das egal. Nur der Ordnung halber antwortete sie: „Klar!“
„Ich dachte an die neue Vampir-Romanze, die in den USA bereits alle Rekorde gebrochen hat. So was mögen junge Mädchen, habe ich mir sagen lassen.“
Sina machte sich nicht das Geringste aus Vampirfilmen. Aber mit ihm zusammen hätte sie sich sogar vor eine vollkommen leere Leinwand gesetzt. Außerdem – wenn da ein paar grausliche Vampire auftauchten, war das unter Umständen eine gute Gelegenheit, sich ein bisschen anzukuscheln.
Hatte er ihr womöglich genau aus diesem Grund den Film vorgeschlagen? Oder war ihm gerade nach Romantik zumute? Auf jeden Fall erschien es ihr bemerkenswert, dass er ausgerechnet diesen Film ausgewählt hatte.
Sina war mit Nachdenken so beschäftigt, dass sie es versäumte zu antworten.
„Also? Was meinst du?“, fragte Jörg.
„Bin gespannt“, erwiderte sie.
Trotz der Riesenpizza Tonno kaufte Jörg sich an der Kasse eine gigantische Tüte Popcorn. „Das gehört zum Kino einfach dazu“, meinte er. Sina musste ihm da zustimmen. Selbst sie nahm sich ab und zu ein Bröckchen.
Zwei Reihen hinter ihr entdeckte sie Thomas. Sie winkte ihm flüchtig zu und vergaß ihn in dem Augenblick, als das Licht verlosch. Während Vorschau und Reklame liefen, schweiften ihre Gedanken ab. Sie stellte sich vor, Jörg würde ihre Hand halten. Auf diese Idee kam er bestimmt nicht von allein. Ob sie kackfrech nach seiner greifen sollte? Händchenhalten war doch eigentlich harmlos. Im Grunde ziemlich unverfänglich. Oder? Egal. Sie brauchte nicht länger darüber nachzudenken. Sie würde sich sowieso nie trauen, seine Hand zu nehmen.
Der Film begann. Die Geschichte war hochromantisch, wahnsinnig aufregend und unheimlich! Der Held, ein Halbvampir, und seine menschliche Freundin kämpften gegen eine Vampir-Gang. Die machte eine Großstadt unsicher, in der kaum noch Menschen lebten. Alle waren schon ausgesaugt worden. Jedes Mal, wenn urplötzlich aus dem Hinterhalt ein Vampir hervorsprang und einen Menschen anfiel, zuckte Sina zusammen. Und jedes Mal, wenn sie zusammenzuckte, umklammerte sie Jörgs Arm. Sie machte es unabsichtlich, es geschah ganz automatisch. Schließlich legte er den Arm um sie und tätschelte ihren Oberarm.
Wunderschön war das! Ganz langsam, unauffällig, rückte sie näher an ihn heran und legte schließlich den Kopf an seine Schulter. Wie gut das tat! Sie fühlte sich bei ihm so sicher, so beschützt. Von ihr aus könnte jetzt ruhig einer dieser grässlichen Vampire von der Kinoleinwand herunterspringen, sie hätte keine Angst!
Ach, würde dieser Film doch ewig dauern! Leider tat er das aber nicht. Als der Held und seine Heldin die Vampire vernichtet und die letzten Menschen in der Stadt gerettet hatten, ging unerbittlich das Licht im Kinosaal wieder an.
Auf dem Heimweg redeten sie kaum. Sina war innerlich zu aufgewühlt, um etwas zu sagen.
Bald jedoch begann es sie zu beunruhigen, dass Jörg die meiste Zeit schwieg. Sonst war er viel gesprächiger! Ließ er die Stunden mit ihr noch einmal an sich vorüberziehen? Möglicherweise fand er den Tag ja genauso schön wie sie. Und hatte es genossen, sie im Arm zu halten. Nun verglich er sie mit ihrer Mutter und fragte sich, wen er lieber mochte.
Oder – Sina erschrak – er langweilte sich mit ihr. Schnell, welche kluge Bemerkung könnte sie über den Film machen? Mist, ihr fiel beim besten Willen keine ein!
In dem Augenblick gähnte Jörg herzhaft und sagte: „Ich bin ziemlich müde.“
Das war es also! Erleichtert behauptete Sina, sie wäre ebenfalls kaputt.
Juhu! Ihre Mutter war noch nicht von ihrer Fortbildungsveranstaltung zurückgekommen. Sina konnte das nur recht sein. So hatte sie ihn noch ein Weilchen für sich allein.
Er schaltete den Fernseher ein, um die Nachrichten zu sehen. Sina setzte sich neben ihn aufs Sofa und guckte mit, obwohl sie sich nicht die Bohne für Nachrichten interessierte. Sie saß nah genug neben ihm, dass er wieder den Arm um sie legen könnte. Bedauerlicherweise tat er das nicht. Vielleicht fürchtete er, dass ihre Mutter jeden Augenblick hereinkommen würde. Oder wollte er mehr Abstand zu ihr halten, damit er sich nicht in sie verliebte – oder noch mehr in sie verliebte?
Kurz vor der Wettervorhersage erschien Frau Paulsen, und damit fielen alle ihre Träume in sich zusammen. Sina befiel auf der Stelle das Gefühl, abgemeldet zu sein. Jörg begrüßte ihre Mutter überschwänglich, als wäre sie jahrelang weggewesen. Er hatte nur noch Augen für sie und lauschte aufmerksam, während sie von dieser todlangweiligen Veranstaltung berichtete. Auf einmal wirkte er kein bisschen müde mehr, sondern im Gegenteil hellwach. Zu allem Überfluss legte er den Arm um sie und hielt gleichzeitig ihre Hand.
Sina konnte das nicht länger mit ansehen. „Ich geh ins Bett“, sagte sie. „Vielen Dank, Jörg, für den schönen Nachmittag.“
„Gern geschehen, Apfelsinchen.“
Er hatte sie Apfelsinchen genannt! Das Blut schoss ihr ins Gesicht.
„Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht“, fügte er hinzu.
„Ja, sehr“, murmelte Sina.
„Mir auch. Wenn deine Mutter demnächst mal wieder keine Zeit für uns hat, haben wir ein Date. Abgemacht?“
Immer noch verlegen nickte Sina.
Über all das grübelte sie, als sie im Bett lag und - öfter mal was Neues - nicht einschlafen konnte. Zweifellos mochte Jörg sie. Aber wie sehr? Oder genauer gefragt: auf welche Weise?
Sina war freudig erregt und unruhig, glücklich und unglücklich zugleich.