Dr. Harald Mayer

Die Pilotenkonferenz


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es jetzt keinen Stau und damit freie Fahrt für Annegret zu einem schönen großen Milchkaffee. Sie setzte sich an einen der zahlreichen freien Tische und entnahm ihrem Rucksack ein in Butterbrotpapier gewickeltes Etwas, das sich schließlich als dunkle Vollkornsemmel aus groben Korn mit einem Salatblatt und vermutlich Streichkäse in der Mitte entpuppte. Vollkornsemmel kauend und Milchkaffe schlürfend beugte sie sich über die Kongressagenda.

      „Okay, gerade läuft der Homo oeconomicus. Dann wird das dieses Jahr wohl nichts mit einer näheren Bekanntschaft mit ihm“, murmelte sie vor sich hin. „Aber vielleicht kommt er ja nächstes Jahr wieder, der Herr Oeconomicus.“ Dann stöhnte sie kurz, aber deutlich vernehmbar auf. „Ach je, das geht ja gut los. Ausgerechnet. Da habe ich ja eigentlich gar keine Lust drauf. Aber genau dieses Thema hat mir Chris ans Herz gelegt.“ Annegret war am Tagesordnungspunkt Nummer zwei der Agenda angekommen. „Dann hör ich mir das halt an, wenn ich schon den ersten Vortrag verpennt habe.“

      „Hoko - treuer Begleiter jedes Wirtschaftsstudenten und Grundpfeiler der klassischen Wirtschaftstheorie. Falls ihr auch zum Millionenheer aktiver oder ehemaliger Wirtschaftsstudenten gehört, erzähle ich Euch nichts Neues – noch nicht. Ihr kennt Hoko: Streng rational handelnd, die eigenen Interessen immer fest im Blick, strebt er stets nach dem größtmöglichen Nutzen. Er kennt alle relevanten Informationen, vergisst nichts, hat klare Präferenzen und kennt keine Stimmungsschwankungen. Auf ihn ist Verlass. Ein enormer Wettbewerbsvorteil, der ihn zur zentralen Figur zahlloser Wirtschaftsmodelle und Theorien befördert hat.

      Auch wenn auf den ersten Blick ersichtlich ist, dass Hoko übermenschliche Fähigkeiten besitzt - wer ist etwa schon frei von jeglichen Gedächtnislücken oder im Stande, sich generell alle notwendigen Informationen zu besorgen und zu merken? - so liegt doch die Annahme zugrunde, dass er menschliches Verhalten hinreichend genau repräsentiert, um ihn und seine Eigenschaften als Basis wirtschaftlicher Modelle einzusetzen. Aber ist diese Annahme gerechtfertigt? Oder ist die Diskrepanz zum realen menschlichen Verhalten nicht vielleicht viel größer als angenommen, möglicherweise zu groß, um viele wirtschaftliche Phänomene mit klassischen, den Hoko bemühenden Modellen erklären zu können?

      Im Gegensatz zu Hoko besitzen reale Wirtschaftsakteure – also Sie, ich, wir alle - weder vollkommene Informationstransparenz noch ist ihre Nutzenmaximierung auf monetäre Vorteile begrenzt. Vollkommene Information ist entweder nicht verfügbar, beziehungsweise zu ökonomischen Kosten nicht zu erlangen, die Aufnahme und oder Verarbeitungskapazität ist vorzeitig erschöpft oder die Informationssuche wird in einem bestimmten Stadium bewusst eingestellt, weil ein befriedigendes Informationsniveau scheinbar erreicht ist. Unter diesen Umständen – und ich denke Sie stimmen mir zu, dass dies, wenn auch bedauerlicherweise, auch auf Sie zutrifft - sprechen wir von begrenzter Rationalität.

      Wir, die echten Akteure, zeichnen uns gegenüber Hoko zudem durch vielfältigere Interessen aus. Wir sind nicht ausschließlich am monetären Nutzen orientiert, sondern berücksichtigen auch subjektive Motive und Bedürfnisse sowie unseren spezifischen Informationsstand. Da hier individuelle Faktoren eine Rolle spielen, sprechen wir hier von subjektiver Rationalität.

      Wir alle handeln also begrenzt und subjektiv rational im Sinne der gerade gegebenen Definition. Unser Verhalten ist deshalb für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar oder vorhersagbar, weil es auch von subjektiven, nicht beobachtbaren Faktoren bestimmt wird.

      Bei Hoko hingegen spricht man von objektiv rationalem Verhalten. Seine Reaktionen sind für andere bei entsprechender Informationstransparenz nachvollziehbar und vorhersagbar, da sie durch keinerlei individuelle, nicht beobachtbare Größen beeinflusst werden. Das ist natürlich ziemlich praktisch, und genau diese Eigenschaften machten ihn zum prominenten Akteur der neoklassischen Wirtschaftstheorie.

      Nun, wie vorhin schon erwähnt, ist Hoko in letzter Zeit vermehrt ins Gerede gekommen. Zu offensichtlich sind alleine schon die erörterten Unterschiede des Modellathleten im Vergleich zu tatsächlichen Wirtschaftsakteuren, zu uns echten Menschen. Zu viele wirtschaftliche Phänomene, die durch klassische ökonomische Modelle nicht zu erklären sind. Zu groß der Erklärungsnotstand bei großen Krisen wie der Finanzkrise 2008 oder der Eurokrise 2011 oder weniger dramatischen Entwicklungen, als dass die klassische Ökonomische Theorie auf Dauer das Monopol für die Modellierung wirtschaftlicher Zusammenhänge für sich beanspruchen könnte.“

      „Ich habe doch nicht an den renommiertesten Instituten überhaupt studiert, um mir hier in dreißig Minuten erklären zu lassen, dass das alles Humbug ist“, rumorte es mächtig in Tom. „Wo lehrt der Typ überhaupt? In Harvard habe ich ihn jedenfalls nicht gesehen. Und in Chicago auch nicht.“

      „Ich bin ja selbst ein klassisch ausgebildeter Ökonom“, fuhr Professor Mons fort, „und habe jahrelang all die Modelle studiert und dann selbst gelehrt. Ich war dann allerdings, sagen wir, flexibel genug, zu erkennen, dass die Modellannahmen und Werkzeuge viele Antworten schuldig bleiben und es andere Erklärungsansätze geben muss. So bin ich in den 80er Jahren – und ich darf das in aller Bescheidenheit sagen, zum Mitbegründer der Verhaltensorientierten Ökonomie geworden, die sich inzwischen maßgeblich etabliert hat. Was machen wir in der Verhaltensökonomie? Na ganz einfach – wir schauen uns an, wie Menschen tatsächlich handeln. Nicht Hoko, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, wie Sie und ich! Darauf kommt’s doch an, oder nicht? Und wie machen wir das? Auch ganz einfach: Wir machen Experimente und beobachten, was passiert. Wir studieren also menschliche Verhaltensweisen, insbesondere in wirtschaftlichen Situationen natürlich. Und da können wir sehr genau feststellen, dass Menschen eben häufig ganz anders reagieren, als Hoko das tun würde. Oder würde Hoko zum Beispiel freiwillig auf Geld verzichten? Richtig, würde er nicht. Sie würden das aber sehr wohl tun!“

      Im Publikum macht sich hörbar Widerspruch breit, vereinzelt sind Kommentare wie „von wegen“, „ich nicht“ oder „hat der `ne Ahnung“ zu hören.

      „Ahh, wie ich höre, scheinen Sie nicht ganz überzeugt zu sein. Geben Sie mir drei Minuten, und sie werden mir zustimmen. Alle!“

      Kapitel 4 - Ultimaten und Diktatoren

      „Ja hallo Annegret, auch wieder bei den Piloten?“ Annegret, noch ganz in die Agenda vertieft, hatte Siegbert gar nicht kommen hören, der auch schon sein gut gefülltes Tablett auf ihrem Tisch abstellte und direkt gegenüber von ihr Platz nahm. „Ich darf mich doch zu dir setzen, alleine frühstücken bringt’s ja nicht wirklich. Sag‘ mal, wie geht’s dir denn?“ Siegbert nahm einen großen Schluck frisch gepressten Orangensaft und widmete sich dann nahtlos seinem Frühstücksomelette XXL mit allem.

      „Hallo, ja, äh gut. Ich meine, mir geht es gut, und dir?“

      „Alles roger“, antwortete Siegbert und schob sich die nächste Ladung Omelette in den Mund. „Bin gerade im Tiefflug hierher und habe jetzt einen Bärenhunger, bin um halb sechs Uhr aufgestanden.“

      „Bist du mit dem Flugzeug hier?“

      „Nein, nein, mit dem Auto. Hab‘ ein neues, hundert PS mehr als das alte. Macht echt Spaß das Teil. So, jetzt erst mal frühstücken, dann ein bisschen telefonieren und dann geht’s los.“

      „Viel Zeit hast du aber nicht mehr, in ein paar Minuten beginnt der nächste Vortrag.“

      „Den Vormittag schenk ich mir. Ich hab‘ ja BWL studiert, insofern sollte das nichts Neues für mich sein.“ Annegret seufzte.

      „Für mich sind das alles böhmische Dörfer und könnten es von mir aus auch gerne bleiben. Aber Chris meinte, ich soll mir das anhören. Also ich geh dann mal. Bis später.“

      „Ist Chris denn auch da?“

      „Jaah“, rief sie im Gehen noch zurück und eilte zum Lift. Sie wollte nicht zu spät kommen. Umso erstaunter war sie, als sie die schwere Türe zum Vortragssaal öffnete – der Vortrag hatte offenbar schon begonnen.

      „Zu unseren bekanntesten Experimenten gehört das sogenannte Ultimatum-Spiel“, hörte sie den Referenten sagen, während sie sich einen freien Platz suchte.

      „In