Dr. Harald Mayer

Die Pilotenkonferenz


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ich mir, das könnte passen, der junge Mann könnte Tom sein.“

      „Hallo Chris, ja freut mich auch. Gut, dass du mich gefunden hast, ich hätte gar nicht gewusst, wo ich beginnen soll zu suchen, ich habe kein Foto von dir bekommen.“

      „Ein Foto habe ich auch nicht bekommen, aber was soll’s, Mentor und Mentee haben ja nun zueinandergefunden! – Schön hier draußen, nicht?“

      „Ja, heute Morgen hatte ich gar keinen Blick dafür, weil ich etwas spät dran war, aber jetzt – ja wirklich schön hier, direkt am Meer!“

      „Ja, und frisch! Wie wär’s mit einem Kaffee – im dritten Stock gibt es eine kleine Cafe-Bar mit herrlichem Blick nach draußen.“

      „Ja, gerne, warum nicht?“

      Wenige Minuten später saßen die beiden an einem kleinen Tisch der Bar direkt an der Fensterfront, die in der Tat einen grandiosen Ausblick bot. Trotzdem war Tom im Augenblick an ganz anderen Dingen interessiert: Wieso musste ausgerechnet er die beiden Tage mit einem Mentor verbringen, wo doch offensichtlich andere Novizen keinen Mentor zugeordnet bekommen haben? Was ist dieser VPHV überhaupt genau, was führen die im Schilde und warum ist er auf diesen Kongress eingeladen? Und: Wer ist Chris?

      „Wenn du kein Foto von mir bekommen hast – was weißt du dann über mich, dass du mich so schnell finden konntest?“

      „Ich habe mehr oder weniger deinen Lebenslauf bekommen.“

      „Also Name, Geburtsdatum, Ausbildung, et cetera?“

      „Ja, genau. Damit konnte ich mir ein erstes ungefähres Bild von dir machen. Und mit ein bisschen Lebenserfahrung war es dann gar nicht so schwierig, dich hier auszumachen. So viele Teilnehmer sind ja nun auch wieder nicht da, und die Frauen kann man ja zum Beispiel gleich mal abziehen.“ Chris grinste.

      „Schon, aber in meiner Altersklasse kämen doch bestimmt noch mindestens ein Dutzend andere in Frage.“

      „Ja, aber nur einer davon stand alleine ohne Ansprechpartner und hat sich dem Trubel und der Kontaktanbahnung in der Eingangshalle entzogen und genoss augenscheinlich die frische Luft und den Blick aufs Meer und hat sich heute für einen gut sitzenden dunkelblauen Anzug entschieden und hat eine sportliche Figur und hat keine Dreadlocks und – ganz abgesehen davon könnte ich ja vor dir schon mehrere Männer fälschlicherweise angesprochen haben.“

      „Und - hast du?“

      „Nein, habe ich nicht.“

      „Das mit den Dreadlocks, also dass ich eben keine habe, steht aber wohl nicht in dem Lebenslauf, den du bekommen hast?“

      „Nein, über deine Frisur steht da nichts drin. Aber bei deinem Lebenslauf wäre das wohl eher untypisch, oder?“

      „Okay. Du weißt also, dass ich an den beiden renommiertesten Universitäten Wirtschaftswissenschaften studiert habe, seit mehreren Jahren Stipendiat bin, in Harvard als Jahrgangsbester den MBA abgeschlossen habe und kurz vor Abschluss meiner Doktorarbeit über ‚Rationale Entscheidungsmodelle in der strategischen Bewertung von Akquisitions-Potentialen‘ stehe?“

      „Ja, und auch, dass du seit mehreren Semestern als Übungsleiter Statistik unterrichtest.“

      „Richtig.“

      „Und jetzt möchtest du wissen, wieso du es mit deiner exzellenten Ausbildung - gerade auch im Hinblick auf das Thema dieses Kongresses -, deinem messerscharfen analytischen Verstand und deinen beeindruckenden akademischen Erfolgen auf einem Kongress zur Entscheidungsfindung mit einem Mentor zu tun bekommst? Dass ausgerechnet du einen Mentor haben sollst?“

      „Äh, naja, also, so hätte ich das jetzt nicht …“ Tom fühlte sich ertappt. Chris sprach ganz genau aus, was Tom in der Tat dachte. Wenn nicht er, wer sonst könnte gut und gerne auf einen Mentor verzichten? Es konnte doch gar nicht sein, dass andere Novizen bessere Voraussetzungen mitbrachten als er?

      „Ich meine, ich denke schon, dass ich gerade für das Thema Entscheidungsfindung recht fundiertes Wissen mitbringe. Das Thema spielt ja im Rahmen meines Studiums eine wichtige Rolle und ist jetzt sogar Gegenstand meiner Dissertation. Also insofern …“

      „Am besten“, unterbrach ihn Chris, „erinnerst du mich gegen Ende des Kongresses daran, falls es dann noch eine offene Frage für dich sein sollte. Für den Augenblick gebe ich dir folgende Antwort: Ja, du bist zweifellos ganz hervorragend ausgebildet, gerade auch für das Thema dieser Tage hier, weit mehr als jeder andere Novize dieses Jahr, soweit ich das überblicken kann. Und genau deshalb hat man dir einen Mentor zugeordnet. Ich freue mich übrigens sehr, dich hier begleiten zu dürfen. Du wirst sehen, mit mir kann man es ganz gut aushalten.“

      „Und genau deshalb – das wird ganz bestimmt eine offene Frage bleiben“, dachte sich Tom.

      „In einer Viertelstunde in der Aula, okay?“, hatte Chris Tom noch schnell zugerufen. Er hatte es plötzlich eilig, müsse noch ein dringendes Telefonat führen, hatte er gesagt. Tom war zwar schleierhaft, wie er dann noch einigermaßen pünktlich zum nächsten Vortrag kommen sollte, aber sein Mentor wird sich wohl etwas dabei gedacht haben, sagte er zu sich selbst. Oder auch nicht. Tom war irritiert. Einerseits strahlte Chris eine Souveränität aus, die ihm durchaus imponierte, andererseits hatte ihn die Antwort auf seine Frage, was er denn so mache, wenn er nicht gerade Mentor auf Kongressen sei, in seiner generellen Skepsis gegenüber einer Mentorenschaft für diesen Kongress mehr als bestärkt. Er käme gerade vom Baumwollpflücken in Kambodscha. Sein Mentor ein Baumwollpflücker! Bei allem Respekt, aber was sollte er denn von dem lernen können? Um organische Rohstoffernte ging es hier ja schließlich nicht.

      „Komm, lass uns ein bisschen frische Luft schnappen. Hier kann man wunderbar an der Uferpromende entlangschlendern. Den Vortrag jetzt kannst du getrost sausen lassen. Dr. Anastrop ist nicht gerade ein Meister der Rhetorik und das meiste, was er zu sagen hat, dürfte dir ohnehin bekannt sein.“

      „Na gut, du bist der Mentor. Gegen etwas frische Luft habe ich nichts einzuwenden.“

      Kapitel 6 - Urlaubsplanung

      Ihre Begeisterung, noch rund eine Stunde in dem Vortragssaal ausharren zu müssen, hielt sich zwar in engen Grenzen, aber Annegret hatte sich schließlich, wenn auch versehentlich, eine halbe Stunde zu früh auf den Weg in den Vortragssaal gemacht, um Dr. Anastrop zum Thema ‚Klassische Entscheidungsinstrumente‘ zu hören. Sie hatte inzwischen zwei dicke Wollknäuel auf ihrem Tisch platziert und zu stricken begonnen. Aus ihrer Sicht konnte es losgehen, sie war bereit.

      Ein paar Minuten später betrat Dr. Anastrop von den meisten unbemerkt den Raum, ging auf die Bühne und begann fast im gleichen Moment mit seinem Vortrag. Mit kaum erhobener Stimme und ohne jede Modulation begann ein monotoner Redefluss, der erst nach exakt fünfundvierzig Minuten wieder zum Versiegen kam. Dass er zunächst aufgrund des noch allgegenwärtigen Stimmengewirrs so gut wie nicht zu verstehen war, schien ihn völlig unbeeindruckt zu lassen. Als es allmählich leiser wurde, war Dr. Anastrop dann auch in den hinteren Bereichen des Saales zu verstehen. Annegrets neue Wollsocken waren schon einige Zentimeter gewachsen, als sie plötzlich bemerkte, dass der Vortrag längst begonnen hatte.

      „Stellen Sie sich vor, Sie möchten mit Ihrer Familie im Sommer in den Urlaub fahren“, hörte sie ihn sagen, „aber Sie können sich nicht auf ein Reiseziel einigen. Hier, in diesem Beispiel aus dem privaten Bereich, können Sie mit Hilfe eines Punktbewertungsverfahrens eine gute, objektivierte Entscheidung treffen. Nehmen wir an, nach einigen Diskussionen stehen als Alternativen ein Urlaub in den Bergen, einer an der Ostsee und eine Flugreise auf die Kanarischen Inseln in der engeren Wahl. Sie ermitteln nun die Kriterien, anhand derer Sie die einzelnen Alternativen bewerten wollen, zum Beispiel ‚Erholungsfaktor‘, ‚Kosten‘, ‚Sportmöglichkeiten‘, et cetera.“

      Dr. Anastrop begann das Ganze in Tabellenform auf den Overhead-Projektor zu skizzieren. „Wenn Sie die Kriterien ermittelt und sich auf eine Gewichtung geeinigt haben, werden die Alternativen A1