Imme Demos

Ssabena - Wilde Wege zum Seelenheil


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Jesus Christus war für mich bislang ungefähr so real gewesen wie Ali Baba, aber mein Gefühl zu diesem Wesen änderte sich während meines Aufenthaltes hier. Es wurde konkreter.

      Den Rest des Tages verbrachte ich an der Klagemauer, saß einfach nur da, schaute dem Kommen und Gehen zu, ließ meine Gedanken schweifen.

      Hier begann ich zum ersten Mal, den fortlaufenden Strom meiner eigenen Gedanken zu beobachten. Hier wurde mein Beobachter geweckt. Hier wollte ich für immer bleiben – eigentlich in diesem Bewusstseinszustand, doch das konnte ich nicht ausdrücken. Also verband ich meinen innersten Herzenswunsch mit diesem Ort.

      Abends in der Herberge machte ich Bekanntschaft mit einem jungen Engländer namens Matthew. Er war mit seinem Motorrad hier hergekommen und wollte am folgenden Tag nach Bethlehem fahren. Ich bat ihn, mich mitzunehmen, er willigte ein.

      Bethlehem liegt nicht weit von Jerusalem entfernt. Noch vor Mittag trafen wir ein.

      Zu meiner Überraschung sah der Ort heruntergekommen aus, ärmlich. Die Straßen aus Schotter, die Häuser, aus Lehm gebaute Vierecke mit Löchern statt Fenster, die Wände teils schief, teils bröckelig. Nur ein paar finster dreinblickende Araber. Etwas Bedrohliches lag in der Luft.

      Wir fuhren ins Zentrum zu Jesus’ Geburtskirche.

      Im Innern folgten wir der Treppe in das kühle, hallende Kellergewölbe. In einer Aushöhlung im alten Gemäuer steht eine Krippe mit Stroh. In mehreren Sprachen ist zu lesen, dies sei nicht der Originalschauplatz von Christi Geburt, sondern eine Nachbildung, der echte Stall mit der Krippe soll aber nicht weit von hier gewesen sein. Das Bethaus wurde erst wesentlich später erbaut.

      Wie ich hier so stand mit meinen gesammelten Eindrücken der letzten Tage wurde mir mit einem Mal bewusst, die Bibel ist nicht nur eine Geschichte, sondern enthält Wahrheit. Über Einzelheiten und Interpretationen kann man sich bestimmt streiten, aber eines ist sonnenklar: Jesus hat es gegeben. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut und zwar ein ziemlich außergewöhnlicher. Er ist hier geboren, hat hier gelebt, anders gesprochen und andere Dinge getan als andere und hat die Menschen damals so sehr mit seinem Denken, Sprechen und Handeln beeindruckt, dass sie bis heute nicht aufhören, über ihn zu berichten und zu schreiben. Dass er Gottes Sohn gewesen sein soll, will ich gar nicht in Frage stellen. Das wirft aber neue Fragen auf: Welcher Mensch ist nicht Gottes Sohn? Wer oder was ist überhaupt Gott? Ist der, der die Christen erschaffen hat, derselbe wie der, der den Moslems das Leben gegeben hat? Ist es derselbe, der den Juden den Atem eingehaucht hat? Viele Kriege sind Religionskriege. Wie wäre es, wenn man den Begriff Gott einfach mal in Frage stellt. Nicht Gott, nur den Begriff. Den haben doch die Menschen erfunden. Wenn die Menschheit nun ausstirbt, gibt es dann keinen Gott mehr? Wenn keiner ihn mehr so nennt? Oder ist Gott vielleicht sowieso etwas, das in keinen Begriff passt? Ist es nicht eine Energie, die Kraft, die alles Leben hervorruft? Nun, das könnte man naturwissenschaftlich oder physikalisch belegen. Wie allerdings will man den Atem nachweisen, die Herkunft, den Ursprung des Atems? Da scheint mir doch etwas Größeres, Unbegreiflicheres dahinter zu stehen. Das ist so, wie es ist. Das ist keine Sache des Glaubens. Ob nun Allah, Jehova oder Christus der Richtige ist, wer will das beurteilen und nach welchen Kriterien überhaupt? Ob der Koran, die jüdische Thora oder die Bibel das richtige Buch ist, an das wir uns zu halten haben, um in Frieden miteinander zu leben, ist auch fraglich. Wie viel Leid gab und gibt es im Namen der Religion? Was für den einen richtig ist, ist es für den anderen noch lange nicht. Ist das Richtige nicht das, was zum Frieden führt, zu Harmonie? Was in uns bestimmt eigentlich, welche Aussage und welches Handeln das richtige ist? Gibt es da überhaupt eine Allgemeingültigkeit? Die zehn Gebote reichen scheinbar nicht aus. Sie lassen zu viele Lücken. Nimm nur das Gebot, jeder sollte seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Viele Menschen hassen sich selbst. Und nun?

      Trotz aller geistiger Bewegung meldete sich der Hunger. Der Körper hat seine eigenen Gesetze. Ohne Nahrung kein Leben.

      Wir traten aus der Kirche und peilten ein Straßencafé an.

      Am Tresen standen einige ältere Männer und tranken ihren Tee. Auf dem Tresen befand sich ein großes Blech mit etwas drauf, das mir sehr attraktiv erschien. Eigentlich hätte ich es für einen ganz normalen Blechkuchen halten können, nur diese Farben konnte ich nicht zuordnen. Der Untergrund, ungefähr ein Zentimeter dick und schneeweiß, darüber eine noch mal so dicke Schicht in orange, und das Ganze lag in einem triefenden Sud. War das nun süß oder salzig? Ich bestellte ein Stück davon. Matthew wollte nur einen Kaffee.

      Instinktiv setzten wir uns, von den wenigen Gästen mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier beäugt, in den Innenraum. Normalerweise kamen Touristen in Reisebussen her, blieben als Gruppe zusammen, nicht vereinzelt wie Matthew und ich. Wir könnten für die Israelis arbeitende Spione sein. Man ließ uns nicht eine Sekunde aus den Augen.

      Der Wirt brachte einen Teller der bunten Speise. Mein erster Bissen lüftete das Geheimnis. Die weiße Schicht, Schafskäse, das Orangefarbene, Karotte, das Triefende, honigartiger Sirup, ich hatte es mit süß-salzig zu tun. Höchst interessante Mischung, die gut mundete.

      Nach unserer kurzen Rast stiefelten wir zurück zu Matthews Motorrad, stiegen auf und rollten auf eine der abgehenden Straßen zu. Da sich der Kirchplatz auf einer Anhöhe befand, verlief die von einer dicken Schotterschicht bedeckte Straße ziemlich steil bergab. Matthew fuhr sehr langsam und achtsam. Ich dachte, hoffentlich legen wir uns hier nicht hin, da passierte es auch schon. Das Vorderrad verlor seine Bodenhaftung, Matthew bekam die Maschine nicht wieder ins Gleichgewicht. Im Zeitlupentempo fielen wir auf den Schotter, rutschten noch ein wenig bergab und kamen zum Stillstand. Schöne Bescherung! Matthew trug vernünftige Lederkleidung, die ihn schützte. Der Motor des Motorrads lief noch. Meine dünne Leggins war über dem linken Knie aufgerissen, Blut floss heraus. Mit zitternden Beinen stand ich auf, erschrocken, obwohl der Fall beinahe vorauszusehen gewesen war. Ich hätte absteigen sollen, als ich die steile Schotterstraße sah und in mir diese Bedenken spürte. Warum habe ich nicht auf mich gehört? Unbewusst hatte mich der verengte Zugang zu meiner Intuition daran gehindert, sofort zu reagieren.

      Wir besahen uns mein Knie. Die rote Leggings zerfetzt, die Haut völlig aufgeschrabt, Kieselsteine richtig tief ins Fleisch reingedrückt. Mein Knie war voller Steine. Hilflos guckten wir uns um. Wie sollte mich hier einer verarzten können?

      Ein Mann kam auf uns zu, ein rettender Engel, von Gott gesandt. Er sprach arabisch mit uns, zeigte auf ein Haus schräg unterhalb der Unfallstelle.

      Ich verstand keins seiner Worte, aber ich verstand, dass wir in dem Haus einen Arzt finden würden. Ein wenig mulmig wurde mir schon. Hatten die überhaupt eine Betäubungsspritze oder ging es hier ohne ab? Nur Mut, da muss ich jetzt durch.

      Matthew stützte mich, bis wir das Haus erreichten. Wir klopften an, und es wurde uns aufgetan. In der Tür erschien ein Mann in einem weißen Kittel. Wortlos wies er mich an, ihm zu folgen. Er führte mich zu einer Liege hinter einem Vorhang und deutete mir an, mich hinzulegen. Zu meiner Überraschung war es hier drinnen blitzsauber wie in einer deutschen Arztpraxis. Ich legte mich hin und überließ mich meinem Schicksal. Der Arzt gab mir eine Betäubungsspritze und machte sich daran, die Wunde zu säubern. Fast eine Stunde lang prokelte er konzentriert mit einer Pinzette in meinem Knie herum und pulte sorgfältig einen Kieselstein nach dem anderen aus dem Fleisch. Danach nähte er mir die zerfetzte Haut zu, verband alles fein säuberlich und reichte mir die Hand zum Abschied. Ich öffnete meine Handtasche, um mein Portemonnaie zu zücken, aber der kleine Arzt winkte energisch ab. Mit einer scheuchenden Handbewegung drängte er uns zur Tür. Ich hatte keine Chance, ihn zu bezahlen, er wollte es partout nicht. So dankte ich ihm noch einmal herzlich und wir verließen sein Haus.

      Zurück in Jerusalem beschlossen wir, bei der erstbesten Möglichkeit ein Glas Wein zu trinken.

      In einer der Gassen fanden wir eine geöffnete Tür im Gemäuer. Nichts ließ erkennen, dass man hier einkehren konnte. Doch schon tauchte ein älterer Araber vor uns auf, machte eine Handbewegung, als ob er trinken würde und hob fragend die Augenbrauen. Auf unser Nicken hin deutete er mit einer einladenden Geste auf die kleine Holztür. Ich war gespannt, wie es dahinter aussieht.

      Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich auf dem Boden