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Ssabena - Wilde Wege zum Seelenheil


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sie jemals weg von hier? Haben sie Freunde? Wo wohnen die und wie besuchen sie sich? Wie waschen sie sich? Während sich die Fragen in mir häuften, verschwand die Beduinensippe aus meinem Blickfeld.

      Die zauberhaften Felsformationen zogen mich wieder in ihren Bann. Wir kamen in eine geradezu utopische Landschaft mit zig kleinen Tafelbergen aus weißem Gestein so weit das Auge reicht, alle gleich hoch, als hätte der liebe Gott mit einem Riesenmesser einmal waagerecht hindurch sämtliche Spitzen abgeschnitten. Atemberaubend! Die Wüste ist voller Schönheit. Beim Anblick der uralten, kahlen Felsen schwindet das Zeitgefühl. Wenn Gott irgendwo wohnt, dann muss es hier in der Wüste sein. Die Atmosphäre ist geradezu himmlisch.

      Plötzlich leuchtete in der Ferne mitten im endlosen Hellbeige ein grüner Fleck. Das muss eine Moshav sein, ein Landwirtschaftsbetrieb. Dort machen sie ein Stück Wüste urbar und bauen Avocados, Auberginen und Melonen an, die wir in Deutschland im Supermarkt kaufen können. Was für ein weiter Weg.

      In der glühenden Abendsonne tauchten die ersten Häuser auf. Fremdkörper. Zivilisation. Schade. Natur pur hat sich besser angefühlt.

      Wir fuhren in den Ort hinein bis zur Hauptbushaltestelle, wo etliche Menschen auf die Ankunft des Busses mit seinen Fahrgästen warteten.

      „You need a room?“ Brauchst du ein Zimmer? Alle fragten und riefen durcheinander.

      Nein danke, ich wollte erst mal ankommen und gucken, wo ich hier gelandet bin, schnallte meinen Rucksack um und bahnte mir meinen Weg durch die Menge.

      Zahlreiche Läden, Kiosks und Cafés an der Straße, die steil bergab führt. Unten glitzert das Wasser. Gegenüber türmen sich die Berge Jordaniens über Akaba auf, der Stadt am Roten Meer, die Lawrence von Arabien einst über die Berge kommend eingenommen hatte. Das Felsengebirge leuchtet in der untergehenden Sonne rot, wirft sein Licht zurück auf das Meer, welches dadurch seinen rötlichen Schimmer erhält. Daher der Name Rotes Meer. Wie wunderhübsch das aussieht!

      Verzaubert ging ich an den Strand, setzte mich in den Sand und sog alles in mich ein, die Luft, die Berge, das Meer, die Palmen, die Lichter, die fremden Laute um mich herum, und ich genoss das Dasein. Mit dem Untergehen der Sonne stellte der Wind sein heißes Gebläse ein. Die Luft kühlte kein bisschen ab. Völlig gefesselt verharrte ich eine gefühlte Ewigkeit.

      Der Mond ging auf. Ich holte meinen Schlafsack raus und legte mich in den Sand.

      Was für ein Sternenhimmel! So viele Sterne, viel, viel mehr als man in Deutschland selbst im Winter sehen kann. Hier verbringe ich meine erste Nacht. Kann es einen besseren Platz geben?

      Geld, Papiere und Ticket legte ich in den Schlafsack ans Fußende, meinen Kopf auf den Rucksack. Zum Bersten glücklich schlief ich ein.

      Die Hitze der Sonnenglut weckte mich am frühen Morgen. Offensichtlich war ich nicht die einzige, die diesen Schlafplatz gewählt hatte. Ich entdeckte noch einige andere Strandschläfer, packte meine Sachen und ging über die Straße hoch ins Tourist-Center, um an einer schönen Ecke einen Kaffee zu trinken. Froh, hier zu sein, ließ ich mich treiben.

      Später rief ich bei Raffael an, niemand ging ans Telefon.

      Die meiste Zeit verbrachte ich am Strand.

      Eine Gruppe Jungs lungerte unter einer Palme herum. Wir kamen ins Gespräch. Allesamt trugen sie biblische Namen. Shlomo, Samuel, erzählte mir von seiner Zeit beim Militär.

      „Ich war im Libanon. Es war schrecklich, die Schießereien und all das, die Schreie, die Kinder. Du musst schießen oder du wirst erschossen. Also habe ich geschossen, habe jemanden erschossen. Bin fast verrückt geworden. Da habe ich zu ihnen gesagt: ,Lasst mich gehen, ich kann das nicht, ich werde wahnsinnig.' Da haben sie mich nach Hause gelassen.“

      Verwundert blickte ich ihn an. „Wie alt bist du?“

      „Neunzehn.“

      Eigenartig, einen jungen Menschen vom Krieg reden zu hören, das kenne ich nur von Vätern und Großvätern.

      Ich ging schwimmen. Meine wasserdichte Geldbörse ließ ich absichtlich zurück. Wenn Shlomo keinen Menschen töten kann, wird er sicherlich auch nicht stehlen. Und wenn einer der anderen Jungs Geld von mir nehmen will, wird Shlomo ihn sicher daran hindern. Es musste so sein, ich wollte unbedingt, dass es so sei. Nur ein paar Schekel im Portemonnaie, ließ ich es darauf ankommen. Ich wollte vertrauen. Als ich aus dem Wasser kam, waren die Jungs weg, mit ihnen meine Börse.

      Ärgerlich. Ich war naiv. Man kann wohl niemandem trauen.

      Das Vertrauen hatte ich lediglich an der falschen Stelle gesucht.

      Was ist Vertrauen eigentlich genau? Und woher kriegt man das?

      Am letzten Tag vor meiner Rückreise bekam ich endlich Raffael ans Telefon.

      „Komm heute Abend zum Club Med. Dort haben wir eine Show. Hinterher können wir reden.“

      In meinen schicksten Sachen erschien ich im jüdisch französischen Hotel Club Méditerranée.

      Die Show hatte internationale Klasse, hebräische Songs, die neuesten Welthits, Begleitung einer schwarzen Sängerin aus Amerika. Sofort stellten sich Vertrautheitsgefühle ein, dieses Metier kannte ich. Ja, in dieser Band würde ich gerne mitspielen.

      Anschließend ergab sich ein kurzes Gespräch mit dem Bandleader Raffael. Er begutachtete mein Äußeres und fragte: „So, du willst in meiner Band spielen?“

      „Ja.“

      „Ich könnte noch eine Keyboarderin gebrauchen“, überlegte er. „Wann willst du einsteigen?“

      „Im Juli.“

      „Bringst du dein Keyboard mit? Was für eins hast du?“

      Ich nannte ihm die Marke.

      „Gut, bring es mit. Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns im Juli.“

      Das war's. Das kürzeste Vorstellungsgespräch, das ich je hatte. Keine weiteren Fragen nach meiner Ausbildung oder meiner bisherigen Berufserfahrung, kein Vertrag, kein Wort über Geld, nichts. Na gut, wenn das hier so ist, spiele ich nach euren Spielregeln. Kann ich dem Raffael denn nun vertrauen, dass er mich im Juli auch wirklich einsetzt? Diese Frage ist nicht beantwortbar. Ich muss es darauf ankommen lassen, habe eh keine andere Wahl.

      Ich flog nach Deutschland, brach meine Zelte ab, verkaufte mein Auto, gab mein Klavier in Zahlung, löste meine Wohnung auf und verabschiedete mich von allen Freunden und Arbeitsstätten. Meine Freunde bedauerten mein Weggehen.

      Zum Traurigsein war ich viel zu erregt über meine Entscheidung zu gehen und voller Vorfreude auf mein neues Leben in Israel. Ganz auf sich gestellt zu sein, die Sprache nicht zu beherrschen, das Leben dort nicht zu kennen, das Neue, die Unsicherheit, all das berauschte mich. Indem ich alles Vertraute hinter mir ließ, sah ich eine Chance, wieder normal essen und angstfrei leben zu können. Ich hatte das Gefühl, ich werde neu geboren und adoptiere mich diesmal selbst. Ich gab mir auch einen neuen Namen, nannte mich Ssabena, mit scharfem S, ohne zu wissen, was das bedeutet, aber es fühlte sich gut an, in Übereinstimmung mit etwas tief in mir drin.

      Am ersten Mittwoch im Juli landete ich in Tel Aviv.

      Mit einer kleinen Inlandsmaschine flog ich weiter Richtung Elat. Wie im Traum glitt ich über die Wüste Negev hinweg, sah wie das Grün langsam vom Erdboden schwindet und zunehmend nackte Felsen die Landschaft bestimmen, wie sich die Wadis durch die Berge schlängeln, unvermittelt die Tafelberge auftauchen. Ich stellte mir vor, dort unten als Beduine auf einem Kamel entlang zu reiten, jeden Berg, jeden Vorsprung zu kennen, zu wissen, dass hinter fünf weiteren Felsen ein vereinzeltes Bäumchen steht, unter dem meine Freunde wohnen.

      Überraschend tauchte ein strahlend blauer Klecks auf, als hätte der liebe Gott einmal auf die Erde gespuckt. Das zwischen den endlosen Beigetönen unwirkliche Blaue war das Tote Meer. Wie klein! Da möchte ich auf jeden Fall mal rein.

      Östlich davon erstrecken sich die wunderschönen, rötlichen Berge bis weit nach Jordanien hinein, südlich verläuft das Gebirge entlang der saudi-arabischen