Ute Dombrowski

Eisblaue Sehnsucht


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es, unendliche Nuancen von Dunkelheit auf die Leinwand zu bannen.

      Jenny war ganz das Gegenteil: Alles an ihr war pink, laut und schrill. Die Kleidung, die Haare, ihre Lippen, ihr Schmuck, selbst ihre Bilder waren pink. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Managers, der mit seinem Vermögen die Kunstfakultät unterstützte. Auch wenn viele annahmen, dass Jenny nur wegen ihres Vaters zu der kleinen elitären Gruppe gehörte, strafte sie die Neider mit ihren Werken Lügen. Sie waren so besonders, dass die junge Frau schon mehrere Bilder verkauft hatte. Sie traf den Geschmack der heutigen Zeit.

      2

      Kira war am frühen Nachmittag nach Hause gegangen. In ihrem Bauch kribbelte es, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie spürte einen starken Drang, ihre Erinnerung von letzter Nacht auf eine Leinwand zu bringen, jedoch wollte sie dabei allein sein. Tief im Inneren wusste sie, dass die Begegnung mit den beiden Gestalten der Nacht real gewesen war, auch wenn es absolut unwahrscheinlich zu sein schien. Bei dem Gedanken an die eisblauen Augen lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken. Das aufregende Gefühl hatte sich auf dem Heimweg noch verstärkt.

      Wie immer hatte sie den Weg durch den Park genommen, denn er war eine Abkürzung zwischen ihrem Zuhause und der Uni. Das weiträumige Gelände grenzte auf der Nordseite des Parks an eine kleine Straße. Sie endete als Sackgasse vor einem riesigen Anwesen, hinter dessen Mauern sie sich das Herrenhaus einer uralten Adelsfamilie vorstellte. Ihre Gedanken waren wie immer über die hohe Mauer gewandert, die an der Grenze zum Unigelände die alte Villa abschirmte. Camilla hatte ihr einmal erzählt, dass darin ein alter Mann mit seinem Enkel wohnte, doch niemand hatte jemals einen Menschen dort gesehen.

      Kira hatte sich von ihren Vorstellungen losgerissen und war das letzte Stück nach Hause gerannt. Jetzt hatte sie eine Leinwand auf die Staffelei vor dem großen Fenster gestellt und schaute die glatte weiße Fläche an. Sie schloss die Augen und fühlte sich plötzlich in die vergangene Nacht versetzt. In dem Moment wusste sie, dass sie ihn wiedersehen musste. Ihr Herz schmerzte kurz, dann riss sie sich von dem sonderbaren Gefühl los und wendete sich den Farben zu, die sie mit absoluter Genauigkeit zu diesem eisigen Blau mischte. Wie in Trance begann sie zu malen und es schienen Stunden vergangen zu sein, als sie endlich dem genauen Abbild ihres nächtlichen Retters gegenüberstand.

      Die Erinnerung war übermächtig und ebenso die Anziehungskraft, die von dem fertigen Gemälde ausging.

      Kira sah zum Fenster und erschrak. Es war dunkel geworden, also hatte sie wirklich Stunden vor der Staffelei zugebracht. Irgendwann musste sie das Licht eingeschaltet haben, aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie spürte Hunger, Durst und musste auf die Toilette.

      „Oh Mann, was passiert hier?“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.

      Sie lief zum Kühlschrank und griff nach einem Joghurt. Nachdenklich löffelte sie ihn leer und dabei fiel ihr Blick auf ihr Handy, das vorwurfsvoll blinkte.

      „Oh!“

      Kira entdeckte sechs verpasste Anrufe und drei ungelesene Nachrichten von Mariella. Irgendwie war sie, seit sie heimgekommen war und zu malen be­gonnen hatte, aus dieser Welt gefallen und kehrte erst jetzt langsam in die Realität zurück. Sie tippte auf das Display und rief ihre Freundin an.

      „Mann, wo warst du denn?“, fuhr die Zwanzigjährige sie ungehalten an.

      „Hallo, ich freue mich auch, deine Stimme zu hören.“

      „Ach entschuldige, aber hast du vergessen, dass wir verabredet waren? Wir wollten ins Kino gehen.“

      „Mariella, ich muss dir etwas erzählen, aber nicht am Telefon. Hast du Zeit? Dann komme ich schnell zu dir.“

      „Was ist denn los? Hast du deinen Traummann getroffen oder ist etwas passiert? Bleib, wo du bist, ich bin eh schon fast bei dir.“

      Zehn Minuten später klingelte es. Kira öffnete und ließ die Freundin ein. Mariella war eine rothaarige Schönheit mit sanften braunen Augen, ebenmäßiger Haut und vollen Lippen. Ihr Temperament passte so gar nicht zu ihrem Äußeren, sie war quirlig und voller Energie, dass man sie manchmal daran erinnern musste, innezuhalten und Luft zu holen. Innerhalb ihrer Freundschaft war Kira der Ruhepol und Mariella das lodernde Feuer. Stets trug Mariella weite wallende Kleider in verschiedenen Grüntönen, während Kira sich meistens nur für Jeans, T-Shirt und Sportschuhe entschied.

      Mariella ließ ich auf die Couch fallen und streifte die Schuhe ab, als ihr Blick auf die Rückseite der Staffelei fiel.

      „Du malst zuhause?“

      Sie wollte aufstehen und schauen, doch Kira kam ihr zuvor und setzte sich neben sie. Sie legte die Hände auf Mariellas Arm und überlegte, wie sie beginnen sollte.

      „Ich wurde letzte Nacht im Park …“

      Mariella unterbrach sie: „Überfallen? Oh mein Gott! Wer war das? Was hat er dir angetan?“

      Kira strich leicht über die Beule am Hinterkopf.

      „Ich wurde nicht überfallen und niemand hat mir etwas angetan. Ich stand im Weg und wurde überrannt, von einer Art Kämpfer. Ein anderer kam dazu und rettete mich.“

      Mariella starrte sie an.

      „Du hast das geträumt, oder?“

      „Nein, ich habe hier eine Beule, wo ich gegen die Mauer am Park gestoßen wurde, also habe ich das nicht geträumt.“

      „Ja, klar. Wach auf! Sowas gibt es nicht.“

      „Ich schwöre, dass es so war.“

      „Du hast dir wohl echt den Kopf angestoßen und dir das eingebildet.“

      Kira seufzte. Hätte sie doch niemals davon angefangen! Jetzt, wo sie es gehört hatte, kam es ihr auch so unwahrscheinlich vor, dass sie Verständnis für Ma­riellas Zweifel hatte. Vielleicht war es wirklich nur ein Traum gewesen?

      Sie musste so enttäuscht geschaut haben, denn plötzlich nahm Mariella ihre Hand.

      „Ach du, es tut mir leid. Das waren sicher ein paar Schauspielstudenten, die eine Szene geprobt haben.“

      „Das kann sein, entschuldige, ich wollte dich nicht damit belästigen.“

      Kira winkte ab und hörte dann dem Geschnatter ihrer Freundin zu, die von einem neuen Gast in der Tierarztpraxis, in der sie arbeitete, genervt war. Der junge Mann kam jeden Tag und ihr Chef hatte schon gegrinst, weil dem Hund eigentlich gar nichts fehlte.

      Darum hatte er heute gesagt: „Wenn Sie meine nette Sprechstundenhilfe treffen wollen, können Sie sie gern zum Kaffee einladen. Auf Dauer wird das billiger.“

      Der junge Mann war bis in die Haarspitzen errötet und hatte sich mit hängenden Schultern aus der Praxis geschlichen.

      „Und bist du ihm nachgegangen?“, fragte Kira.

      „Nein! Was denkst du denn? Ich will im Moment niemanden kennenlernen. Außerdem ist er nicht mein Typ. Sein Hund ist süß, aber er nicht.“

      „Schade … Ich würde mich gerne mal wieder verlieben!“

      In dem Moment machte Kiras Herz einen merkwürdigen Sprung, den sie nicht einordnen konnte. Sofort tauchten die eisblauen Augen vor ihr auf und sie musste sich mit aller Macht von ihren Erinnerungen losreißen. Mariella hatte nichts bemerkt, sie lachte plötzlich laut.

      „Ich wüsste, in wen du dich verlieben könntest!“

      Kira sah sie verständnislos an.

      „Denk nach! Du hast mir schon mal von ihm erzählt.“

      „Ach, du meinst Tom. Nein, lass mal, wir studieren zusammen und er ist nett, aber er ist so still und in sich gekehrt. Nein, ich denke, er weiß nicht mal, dass es mich gibt, jedenfalls nicht als Frau.“

      Sie wusste genau, dass Tom oft ihre Nähe suchte, doch das hatte sie meistens auf der beruflichen Ebene eingeordnet. Sie versuchte, sich eine Beziehung mit ihm vorzustellen, aber