In der Ferne sah sie die Umrisse des schmiedeeisernen Tores, das sich genau in diesem Augenblick öffnete. Kira blieb fast das Herz stehen und sie stoppte in sicherer Entfernung, um hinter einem Baumstamm zu verschwinden. Ihr Atem ging schnell, ihre Hände zitterten. Dann sah sie eine dunkle Gestalt auf sich zukommen.
Sie presste sich an den Baum, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden, schloss die Augen und musste beinahe lachen. Als sie klein war, hatte ihr Vater oft mit ihr verstecken gespielt. Er hatte ihr erklärt, dass man sie nicht sehen konnte, wenn sie selbst nichts sah, und so hatte sie sich immer die Hände vor die Augen gehalten. Heute wusste sie, dass es nicht funktionierte, aber es erfüllte sie mit Wärme, darum öffnete sie mutig die Augen und sah, dass die dunkle Gestalt genau vor dem Baum stand.
„Was machst du hier?“, fragte eine strenge männliche Stimme.
Kira trat hinter dem Baum hervor.
„Ich … ich … ich konnte nicht schlafen und bin …“
„Spazieren gegangen?“
„Ja“, sagte sie kleinlaut.
Vor ihr stand ein Mann in ihrem Alter, er trug Sportkleidung und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen. Seine Augen lagen im Schatten, aber Kira spürte, dass er sie musterte.
„Und ich dachte schon, nur ich sei bescheuert, um diese Zeit durch den Park zu rennen.“
Kira entspannte sich sichtbar.
„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Mich erschrecken?“, fragte der Mann ungläubig. „Mädchen, haben dir deine Eltern nicht gesagt, dass nachts im Park große Gefahren lauern? Räuber, Vergewaltiger und sowas?“
„Haben sie, aber ich muss es wohl vergessen haben.“
Kira trat von einem Bein auf das andere.
„Dann komm“, sagte der Mann versöhnlicher, „ich bringe dich ein Stück, damit du nicht überfallen wirst. Ich bin übrigens Linus, und wie du dir vorstellen kannst, ein Nachtmensch.“
„Ich bin Kira und studiere hier an der Uni Kunst.“
„So ein Zufall. Ich studiere auch hier, aber Mathematik.“
„Ah, also genau das Gegenteil.“
Linus streifte die Kapuze herunter, wobei wilde blonde Locken zum Vorschein kamen, und sie liefen in Richtung Ausgang. Er erklärte ihr die Nähe ihrer beiden Studienfächer, aber Kira hörte nur halbherzig zu. Seine Beschreibung der Gefahren hatte sie beunruhigt und sie war froh, dass er kein Räuber oder Vergewaltiger war.
Am Tor blieben sie stehen.
„Danke, dass du mich begleitet hast, ich wohne dort drüben.“
„Gute Nacht, Kira, und wenn du mal wieder nachts spazieren gehen willst, sag Bescheid und ich erschrecke dich hinter einem Busch.“
Linus hatte seine Augen zusammengekniffen und lächelte böse. Dann drehte er sich um und verschwand im Laufschritt. Kira trödelte nach Hause. Sie war überhaupt nicht müde, im Gegenteil, seit der Begegnung im Dunklen war sie aufgedreht.
In der Wohnung war es warm und gemütlich. Sie zog sich den Schlafanzug an, setzte sich mit einem Buch ins Bett und kam langsam zur Ruhe. Irgendwann war sie eingeschlafen und wachte erst auf, als der Wecker um sieben Uhr losdröhnte.
Nach einer Tasse Kaffee machte sie sich auf den Weg zur Uni.
4
Vor dem Atelier stand ein junger Mann mit blonden Locken. Er trug eine schwarze Cordhose, ein graues Hemd und eine unmoderne Altmännerweste mit Hornknöpfen. Er machte einen ganz anderen Eindruck als nachts im Park. Sein Lächeln war unergründlich und Kira fühlte sich direkt unwohl. Was tat er hier?
„Guten Morgen, Kira, ich wollte mich nur davon überzeugen, dass es dir gut geht.“
Er legte einen Arm um ihre Schultern, als sie an ihm vorbei ins Atelier gehen wollte.
„Guten Morgen, ja, es geht mir gut. Woher weißt du, dass ich hier bin?“
Es war ihr unangenehm, dass er so tat, als würden sie sich ewig kennen.
„Kira, es ist nicht richtig, nachts in den Park zu gehen, ich möchte dir das nur nochmal sagen: Es gibt viele Gefahren und die Geschichte des Parks trägt nicht dazu bei, ihn sicherer zu machen.“
Damit nickte er, ließ sie los und verschwand zwischen den Studenten im Flur.
Welche Geschichte? Sie kannte keine, die von diesem Park handelte. Kira zuckte mit den Schultern und betrat das Atelier. Nachdenklich ging sie an die Staffelei und begann mit der Arbeit. Eine Stunde später waren alle da: Tom, Camilla, Rudolf und Jenny. Es herrschte eine angenehme Stille, nur ab und zu hörte man jemanden mit den Farbtuben hantieren. Sie sprachen nicht, sondern tauchten ab in ihre eigenen Welten.
Gegen Mittag kam Professor Bimberger und ließ sie am Tisch zusammenkommen.
„Ich sehe, Sie sind fleißig. In vier Wochen möchte ich eine kleine Ausstellung im Foyer aufbauen. Ein großer Galerist hat sein Kommen angekündigt und vielleicht kann ich das eine oder andere Bild in sein Blickfeld rücken. Kira, was ist mit dir? Ist das Porträt dann soweit?“
Kira nickte. Sie reckte sich, denn sie war stolz auf das, was sie tat. Sollte der Galerist sie entdecken, könnte sie vielleicht einige Bilder verkaufen. Dabei hatte ihre Mutter immer von „brotloser Kunst“ gesprochen. Sie konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass Künstlerin ein angesehener Beruf sein könnte. Das hatte Kira unendlich traurig gemacht. Die Mutter war Hebamme und das war für sie ein ehrbarer Beruf. Kiras Vater aber sah das Leuchten in den Augen seiner Tochter, wenn sie übers Malen sprach. Er ahnte schon immer, dass sie mal eine erfolgreiche Künstlerin werden konnte, aber er traute sich nicht, sich gegen seine Frau aufzulehnen. Darum steckte er Kira heimlich Geld zu, damit sie Farben, Leinwände und anderes Zubehör kaufen konnte.
Ihr Vater hatte sie in den Arm genommen, als sie ihm vom Verkauf der ersten Bilder erzählt hatte, die ihr die kleine Wohnung finanzierten. Die Summe, die noch gefehlt hatte, hatte er ihr heimlich gegeben. Die Mutter hatte nur die Augenbrauen hochgezogen, als sie ihr vom Kauf berichtet hatte.
„Kind, du könntest mehr haben als diese kleine Wohnung in der Stadt: ein Haus mit Garten, einen Mann, Kinder, einen richtigen Beruf. Warum kommst du nicht zurück und machst das, wozu du bestimmt bist?“
Kira hatte hilfesuchend zu ihrem Vater geschaut, aber der war mit einer Zigarette nach draußen geflüchtet. Traurig hatte sie den Kopf geschüttelt und war in ihr Zimmer gegangen. Dass ihr Vater an sie glaubte, wusste sie, aber dass er nicht dazu stehen wollte, tat ihr weh. Andererseits fiel es ihr so leichter, sich ein neues Leben in der Stadt aufzubauen, denn sie selbst glaubte auch an sich und sie hatte genügend Selbstbewusstsein, um ihren eigenen Weg zu gehen. Manch andere hätte aufgegeben und sich nicht getraut, einfach wegzugehen, aber Kira wusste, was sie wollte: malen und mit ihren Bildern Menschen berühren. Sie wusste auch, dass irgendwo ein Platz für sie vorgesehen war, und dieser Platz war nicht in dem winzigen Dorf.
Und so war sie Professor Bimberger begegnet, der sofort ihr Talent entdeckt hatte. Er stand stets hinter dem, was sie tat. Ihn musste sie nicht überzeugen, er ließ ihr meist freie Hand. So sah Kira in ihm eine Art Vater-Ersatz.
Als die Besprechung beendet war, sah sich der Professor noch alle Werke an, an denen die Studenten arbeiteten, gab Tipps, beantwortete Fragen und wollte schon wieder gehen, als Kira ihn nochmal rief.
„Darf ich Sie noch etwas fragen?“
„Natürlich, Kira, Sie dürfen mich alles fragen.“
„Jemand hat zu mir gesagt, dass der Park dort draußen eine Geschichte habe. Kennen Sie die?“
Professor Bimberger runzelte die Stirn und sah plötzlich sorgenvoll aus.
„Das