weißen Haaren umrahmte eine Glatze, die wie poliert aussah. Die Sommersprossen hatte der Großvater an seine Tochter weitergegeben. In Alexandros Erinnerung hatte er immer versucht, die Sommersprossen seiner Mutter zu zählen, bis sie ihn so gekitzelt hatte, dass er lachend von ihrem Schoß rutschte.
Er setzte sich auf den Sessel neben dem Bett. Immer, wenn sein Großvater so ruhig dalag, befürchtete er, dass er zu spät kam. Aber jetzt sah er, wie sich die Bettdecke leicht hob und senkte und die Erleichterung stellte sich rasch ein. Was sein würde, wenn der Tod den Großvater holte, konnte und wollte er sich nicht ausmalen. Gregor Liebert war krank, todkrank, ein bösartiger Knochenkrebs fraß den alten Mann von innen her auf. Es war schlimmer geworden seit dem Unfall.
Eine Welle von Traurigkeit rollte über Alexandro hinweg, als er an den Tag vor dreizehn Jahren dachte. Er hatte die Ferien bei seinem Großvater verbracht und mit ihm Museen und Konzerte besucht. Es waren die schönsten Ferien seines Lebens gewesen, bis eines Abends die Polizei vor der Tür stand. Sie waren mit dem Großvater in die Küche gegangen. Ein paar Minuten, nachdem sie das Haus verlassen hatten, rief Gregor seinen Enkel zu sich und nahm seine Hand. Alexandro hatte die Tränen in den Augen des Großvaters gesehen und gespürt, dass etwas Schreckliches geschehen war. Dann hatte er zugehört und ernst genickt.
„Und sie kommen nie mehr wieder?“
„Nein, sie kommen nie mehr wieder.“
Alexandros Leben hatte sich daraufhin rasant verändert. Gregor hatte ihn zu sich genommen und sich liebevoll um ihn gekümmert. Sie gingen regelmäßig auf den Friedhof und nachdem der Junge seinen achtzehnten Geburtstag mit Freunden gefeiert hatte, rief der Großvater ihn noch in der Nacht an sein Bett. Er erzählte ihm vom Krebs, der sich rasch ausbreitete. Das hatte Alexandro erschüttert, obwohl er schon gesehen hatte, dass sein Großvater unter großen Schmerzen litt. Immer öfter war der alte Mann ans Bett gefesselt gewesen. Eine Chemotherapie hatte mit dem ratlosen Kopfschütteln des Arztes geendet.
Was ihm sein Großvater in dieser mondhellen Nacht noch offenbarte, hatte Alexandro vollends aus der Bahn geworfen. Bis zum Morgen hatte er im Zimmer seines Großvaters am Fenster gestanden und dessen Worten gelauscht, die so ungeheuerlich waren, dass alles nur ein Traum sein konnte.
Am nächsten Morgen hatte er in sich gespürt, dass alles der Wahrheit entsprach. Er hatte in den Spiegel geschaut und die Veränderung seiner Augen gesehen. Sie waren schon immer blau gewesen, aber dieses besondere Strahlen war neu. Dann hatte ihm der Großvater eine Brille mit getönten Gläsern übergeben.
„Sie gehörte mir und du musst sie am Anfang tragen, wenn du die Kräfte noch nicht steuern kannst. Ich weiß, dass sich dein Leben ändern wird, doch du bist nun mal auserwählt, dieses Erbe anzutreten. Deine Mutter hatte ihren Partner und geliebten Ehemann gefunden und sie waren bereit, gegen das Böse zu kämpfen, aber sie sind nicht mehr da, darum bist du jetzt an der Reihe.“
„Kann ich das Erbe ausschlagen?“, hatte Alexandro gefragt, obwohl er im gleichen Moment wusste, dass er es weder konnte noch wollte.
Die Worte, die sein Großvater gesprochen hatte, waren groß und bedeutend gewesen und wenn das Wohl der Menschheit davon abhing, dann gab es kein Zurück.
„Du kennst die Antwort. Ich weiß, mein Junge, dass es eine große Aufgabe ist, doch die Bösen werden mehr, also wirst du gebraucht. Es geht auch nicht darum, ob du es möchtest oder nicht, es ist einfach so: Du bist ein Kämpfer für das Gute. Jetzt weißt du es also. Ich werde immer an deiner Seite sein, wenn auch nur noch mit Ratschlägen und als Zuhörer für deine Sorgen und Nöte. Ich werde nicht mehr selbst kämpfen können.“
Jetzt bewegte sich der Großvater und öffnete die Augen. Er sah seinen Enkel an und lächelte.
„Na, mein Junge, ist schon Nachmittag?“
„Nein, ich habe Mittagspause und dachte, ich verbringe sie zuhause. Ich wollte dir noch ein bisschen Gesellschaft leisten.“
„Das ist lieb von dir. Kannst du mir bitte ein Glas Wasser eingießen?“
Alexandro tat es und half ihm sich aufzusetzen, um ihm das Glas an den Mund zu halten. Gregor Liebert trank gierig, leckte sich dann die Lippen und lehnte sich in die Kissen, die ihm Alexandro in den Rücken gestopft hatte.
Alexandro hatte die Zeitung mitgebracht und schaute jetzt auf die erste Seite. Die Schlagzeile ließ ihn erschaudern.
„Es ist schon wieder jemand verschwunden, Großvater.“
Der alte Mann riss die Augen auf.
„Was sagst du da?“
„Ein Student, ich kannte ihn vom Sehen. Die Polizei war da und in der Zeitung steht, er ist schon der vierte Vermisste in diesem Jahr.“
„Lies vor!“
Gregors Stimme zitterte.
„… haben die Eltern ihren Sohn als vermisst gemeldet, weil er zu einer wichtigen Prüfung nicht erschienen ist. Da es schon der vierte junge Mensch ist, der seit einiger Zeit vermisst wird, geht die Polizei von einer Verbrechensserie aus, zumal eines der Opfer letzte Woche tot aufgefunden wurde.“
Der Großvater war noch blasser geworden. Alexandro legte nachdenklich die Zeitung aus der Hand.
„Diese Reporter haben überhaupt kein Mitgefühl, es zählt nur die Sensation. Wie schlimm muss es für die Eltern sein? Großvater? Hallo? Geht es dir gut? Was ist denn los?“
„Er ist wieder da.“
„Wer? Bitte rede! Von wem sprichst du?“
„Er muss dahinterstecken! Es fing damals genauso an.“
„Was meinst du?“
„Er … er muss es sein. Obwohl er damals verschwunden war.“
Alexandro war verwirrt.
„Du musst mir alles sagen! Wie kann ich helfen? Was muss ich tun?“
„Der Professor, dem wir die böse Geschichte des Parks verdanken, hatte einen unehelichen Sohn, er muss der offizielle Nachfolger des Professors gewesen sein, so wie deine Mutter auf der guten Seite. Irgendwann findet jeder seinen passenden Partner und die Kinder werden auch wieder eingeweiht. Der Professor ging schon immer seinen eigenen Weg, so hat er seine Partnerin geheim gehalten, nicht geheiratet und das uneheliche Kind bekommen. Das hat ihn am Ende auch das Leben gekostet, er wurde im Gefängnis von jemandem aus seinen eigenen Reihen getötet, weil er sich über alle erheben wollte. Zur Zeit des Professors verschwanden in rascher Folge an die dreißig Studenten und alle waren tot, als man sie fand. Das alles ist lange her, aber ich habe ein ungutes Gefühl. Du musst dich darum kümmern. Rede mit den Angehörigen der Vermissten! Danach erzählst du mir alles. Weißt du, es ist wie eine Waage: In der einen Schale sind die Guten, in der anderen die Bösen. Es sollte immer so sein, dass es mehr gute Menschen gibt, aber ich befürchte, dass die Bösen in ihrer Schale langsam mehr Gewicht bekommen. Schau dir die Welt an, in der Macht und Besitz so wichtig geworden sind! Es gibt viele Kriege, Menschen töten andere, es wird betrogen und gelogen, nur um mehr Macht und Geld zu besitzen. Wir müssen etwas dagegen tun.“
„Gut, ich mache mich gleich auf den Weg. Die Vorlesung lasse ich ausfallen.“
„Es tut mir leid, aber das ist wichtiger.“
„Keine Sorge, Großvater, ich verstehe das. Ich wollte dir noch etwas sagen.“
Die Augen von Alexandro bekamen einen eigenartigen Glanz. Gregor lächelte.
„Eine Frau?“
„Ja, vorletzte Nacht ist sie mir begegnet. Jemand hat sie gestoßen und ich denke, ich war rechtzeitig zur Stelle. Es war merkwürdig, sie starrte mich an, als wüsste sie … aber nein, das kann ja nicht sein. Sie wird mich schon wieder vergessen haben. Schade. Wie lange muss man warten?“
„Manchmal ein wenig länger, aber vertrau mir: Du wirst es wissen, wenn du ihr begegnest. Du wirst das Gute in ihr spüren. Ich weiß nicht, warum, aber die Frauen aus unseren Reihen können entweder durch die Geburt auserwählt