Ingo T. Herzig

Vinz


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verirren würde. Außerdem wollten wir uns sowieso nicht übermäßig lange hier aufhalten. Obschon wir rechtschaffen müde waren, dominierte in uns das Bedürfnis uns nach der langen Marathonfahrt ein wenig die Beine zu vertreten. Wir spazierten sogar recht lange durch die schöne, wenn auch für meine Begriffe etwas karge Landschaft. Umso mehr waren wir uns dessen gewiss, uns den Schlaf redlich verdient zu haben.

      Hatten wir uns verlaufen? Diese Frage stellte sich uns unwillkürlich, als wir den Platz erreichten, wo wir „Hannelore“ gelassen hatten, zumindest wo wir sie zurückgelassen zu haben glaubten. Das Wohnmobil war nämlich spurlos verschwunden. Reifenspuren deuteten indes unmissverständlich darauf hin, dass „Hannelore“ nicht nur hier gestanden, sondern von hier fortgefahren war.

      Lange standen wir da und konnten gar nicht fassen, was wir da sahen bzw. was wir da nicht mehr sahen.

      „Sag mal, hast du denn nicht abgeschlossen?“, fragte mich Leif. Ich hatte zuletzt am Steuer gesessen.

      „Ich denke schon“, antwortete ich kleinlaut. Auf- und Zuschließen waren mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich dem schon lange keine besondere Beachtung mehr schenkte. Den zur „Hannelore“ gehörigen Schlüsselbund hatte ich in der Tasche und holte ihn wie zur Bestätigung hervor. Leif sah mich vorwurfsvoll an, als sei meine Schuld an dem Diebstahl erwiesene Sache. Dabei hätte uns die gleiche Misere auch in Südfrankreich widerfahren können; vielleicht sogar mit größerer Wahrscheinlichkeit als hier.

      Uns blieb also keine andere Wahl, als uns an den Straßenrand zu stellen und zu versuchen, per Anhalter nach Stirling zu gelangen. Leider handelte es sich bei dieser Straße um eine nur sehr wenig frequentierte. Nachdem wir fast eine Stunde dort gestanden und vergeblich gewartet hatten, beschlossen wir schließlich, uns zu Fuß auf den Weg zu machen. Bis nach Stirling waren es nur noch wenige Kilometer bzw. Meilen – die Briten waren ja noch immer nicht so recht mit dem Dezimalsystem warm geworden –, und da wir gut zu Fuß waren, hatten wir das Stadtgebiet recht bald erreicht. Da es schon fast völlig dunkel war und wir niemandem mehr auf der Straße begegneten, sahen wir keine andere Lösung als an irgendeiner Tür zu klingeln und zu fragen, wo denn das nächste Polizeirevier liege, oder vielleicht gleich von dort die Polizei anzurufen. Da fiel mir auf, dass die Straße, in die wir geraten waren, Thomas Morley Road hieß. Hier wird doch nicht etwa auch …? Ich kannte ja die Hausnummer des musischen Internats, in dem Peggy ihre geistige bzw. musikalische Heimat hatte, nahm Leif, der noch dabei war, sich das ihm am sympathischsten erscheinende Haus auszusuchen, beim Ärmel und zog ihn in die Richtung, in der die zu suchende Hausnummer zu finden sein musste. Und tatsächlich: Meine Intuition hatte mich nicht getrogen. Da ragte das viktorianische Gebäude des Colleges, so wie ich es vom Programmzettel her noch in Erinnerung hatte, in den wolkenlosen Himmel, an dem inzwischen die Sterne sichtbar geworden waren. Die Fenster des Internats waren erleuchtet; also hatten die Sommerferien noch nicht Einzug gehalten.

      Mir klopfte ordentlich das Herz, als wir dem Eingang zustrebten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich war fest entschlossen, Peggy zu finden. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass mir der Anblick der recht streng dreinschauenden Pförtnerin zunächst die Schritte hemmte. Leif gab mir einen kräftigen Schubs: „Jetzt sind wir so weit gekommen und kommen auch noch weiter!“

      Seine Miene hatte sich längst wieder aufgehellt. Ich wusste auch, warum: Er fühlte mit mir.

      Da wir nicht wissen konnten, wie konservativ die hiesigen Sitten waren, fragte ich nicht nach Peggy McSullivan, sondern nach Barry Garner, den ich mit seinem Cello vom Konzert her noch in guter Erinnerung hatte. Die Pförtnerin ließ sich unsere Ausweise zeigen, die wir zur Zeit des Diebstahls glücklicherweise bei uns getragen hatten, nannte uns Barrys Zimmernummer und setzte uns davon in Kenntnis, dass Besuche nur bis „10 p.m.“ gestattet seien. Wir hatten also etwas mehr als eine Stunde Zeit.

      Ich fragte das erste Mädchen, das wir im Treppenhaus trafen, wo Peggy McSullivan zu finden sei, und die Gefragte brachte uns bereitwillig zu ihrem Zimmer. Je mehr wir uns ihrem Zimmer näherten, desto schwerer fiel mir das Atmen. Das Herz klopfte mir bis zum Hals.

      Die Tür stand offen. Aus dem Zimmer drangen Gitarrenmusik und Gesang. Mehrere Internatsbewohner beiderlei Geschlechts saßen bei Liedern, Guinness und Cola beisammen, darunter auch das offizielle Ziel unseres Besuches, Barry Garner, der die Gitarre spielte. Peggy saß in der Mitte des nicht sehr geräumigen Zweierzimmers. Obschon ihr Bild in meiner Erinnerung im Laufe der Monate verblasst war, schien es mir, als hätte ich sie erst gestern zum letzten Mal gesehen, so vertraut war mir auf einmal wieder ihr Anblick.

      Die Musik brach ab, und nahezu gleichzeitig wandten sich die Köpfe aller Anwesenden in unsere Richtung. Das Mädchen, das uns hierhergeführt hatte, zog sich wieder zurück, und wir fanden uns Überraschung signalisierenden und fragenden Blicken gegenüber. Auch Peggy schien zunächst nicht zu wissen, wo sie uns bzw. mich einordnen sollte; doch bevor sich in mir ein Gefühl der Enttäuschung darüber ausbreiten konnte, erinnerte sie sich auf einmal wieder und kam auf uns zu.

      „Vinz!“

      Wie freute es mich, dass sie meinen Namen noch wusste! Auf die obligatorische Frage, wie ich denn hierherkäme, erzählte ich ihr die ganze Geschichte, in deren Verlauf ich ihr meinen Schulfreund Leif vorstellte.

      „Alles nur deswegen, weil er dich sehen wollte!“, setzte Leif provokativ hinzu, nachdem ich geendet hatte. Das war mir so peinlich; doch Peggy schien angenehm berührt.

      Die Übrigen hatten mit großem Interesse zugehört und wollten auch gleich wissen, wie Peggy und ich uns kennen gelernt hatten. Dies war schnell erzählt. Barry Garner, der ja selbst bei diesem Konzert mitgewirkt hatte, wunderte sich darüber, dass er davon überhaupt nichts mitbekommen hatte.

      Peggy und ihre Mitschüler zeigten sich auf der Stelle hilfsbereit und schickten sich sogleich an, mit uns auf die Polizei zu gehen. Wir zwängten uns mit sieben Mann in den Kleinwagen eines von Peggys Mitschülern und steuerten das nächste Polizeirevier an. Dort nahm man ein Protokoll auf. Peggy gab als Adresse diejenige des Internats an und nannte sich als Bezugsperson.

      „Natürlich könnt ihr solange bei uns bleiben“, versicherte sie. Damit waren vorerst alle Unklarheiten aus dem Wege geräumt. Das erleichterte Leif und mich ungemein.

      Als wir das Internat erreichten, warteten wir einen Augenblick, bis die Pförtnerin einmal kurz ins Hinterzimmer trat, und huschten dann ins Haus. Wir versammelten uns wieder in Peggys Zimmer, und nun wurde alles Ess- und Trinkbare zusammengetragen, was aufzutreiben war. Dies kam uns gerade recht. Durch die Aufregung und die Ungewissheit, wie denn alles weitergehen würde, hatten Leif und ich gar nicht ans Essen denken können; doch nun, da sich die Situation sichtlich entspannt hatte, bahnte sich der Hunger seinen Weg in den Vordergrund.

      Bis gegen drei Uhr in der Frühe saßen wir beisammen, unterhielten uns und sangen auch. Es war schön. Ich fühlte mich pudelwohl in dieser Gesellschaft, und ich brauchte meinen Freund Leif nur ins Gesicht zu schauen, um festzustellen, dass es ihm da ganz genauso ging wie mir. Das freute mich. Peggy saß mir genau gegenüber, und jedes Mal, wenn ich zu ihr hinüberschaute, erwiderte sie meinen Blick und schenkte mir ein wenn auch nur angedeutetes, so doch ein Lächeln, das mir zu sagen schien: Danke, dass du gekommen bist!

      Barry Garner und James, der uns in seinem Auto zur Polizei taxiert hatte, stellten uns ihr Zimmer zur Verfügung, während sie sich mit Decken und Luftmatratzen bei anderen Kollegen einquartierten, und während sich die Insassen des Colleges am Morgen aus den Federn und ins Klassenzimmer quälen mussten, schliefen Leif und ich den Schlaf des Gerechten. Als wir erwachten, fanden wir das Frühstück bereits am Bett stehend. Es handelte sich zwar lediglich um die Reste von gestern Abend plus einigen Bestandteilen des heutigen Internatsfrühstücks; aber mir kam es vor wie der Service in einem Fünf-Sterne-Hotel. Dabei lag ein Zettel, auf dem Peggy uns in ihrer geschwungenen Handschrift auf Deutsch einen guten Appetit wünschte.

      Um die Mittagszeit – wir waren gerade fertig mit Duschen – kamen Peggy und ihre Freunde und versorgten uns mit Essen aus der Kantine. Da sie auch nachmittags Unterricht hatten, schauten Leif und ich uns in aller Ruhe die Stadt an und trafen uns abends wieder mit unseren Gastgebern. Diesmal zogen wir durch mehrere Pubs. Ich weiß gar nicht mehr, wie