Ingo T. Herzig

Vinz


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sie sei mir entwischt; aber nein, da kam sie endlich, zusammen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester. Patrícia begrüßte mich wie immer sehr freundlich und es war für mich eine Wohltat, ihr meine Begeisterung mitteilen zu können. Ihre Eltern verfolgten dies, wie mir schien, mit Wohlwollen. Dies veranlasste mich zur Hoffnung, dass sie einen positiven Eindruck von mir gewonnen hatten, und ließ mich umso mehr hoffen, dass sich unser Kontakt verstärken würde. Ich war danach so aufgedreht, dass ich in der Nacht nicht schlafen konnte.

      Bis zum Beginn der Sommerferien fehlte nur noch eine knappe Woche. Die noch verbleibenden Schultage wurden meist mit Ausflügen und Wanderungen verbracht. Am nächsten Tag schwang sich unsere Klasse aufs Fahrrad und radelte los. Das Wetter war an diesem Tag trübe, feucht und für die Jahreszeit eigentlich zu kühl, und nur selten fand ein Sonnenstrahl ein Loch durch die Wolkendecke; aber all das kam mir nach der schlaflosen Nacht gerade entgegen. Der frische Fahrtwind hielt mich einigermaßen bei Sinnen. Unser Weg führte uns von Limburg durch den Goldenen Grund – die Gegend heißt wegen des fruchtbaren Bodens so – in Richtung Frankfurt. Nach zehn Kilometern etwa bogen wir nach links ab ins Tal des Laubusbaches, das ebenso zauberhaft ist wie der Goldene Grund. Über mehrere Kilometer ist es von Wald geprägt, der später ausgedehnten Feldern Platz macht. Nachdem wir eine Ortschaft durchquert hatten, erreichten wir nach wenigen Kilometern unser Ziel, eine ehemalige Mühle. Im Laubustal gibt es einige davon. Diejenige, für welche der Großteil unserer Klasse gestimmt hatte, war zu einem Reiterhof umfunktioniert worden und hieß seitdem Ponderosa. Ich hatte vorher noch nie etwas von der Ponderosa gehört. Damals war sie auch noch nicht so bekannt wie heute. Erst später entwickelte sie sich zu einem beliebten Ort, der alle Möglichkeiten zu erholsamen Reiterferien oder geruhsamen Urlaub im Grünen bietet. Mit diesem Hof sollte ich später noch mehr zu tun bekommen, und zwar durch Claudia, die ich aber erst zwei oder drei Jahre später kennen lernen sollte. Claudias Eltern sind heute Pächter der Ponderosa; aber damals waren sie noch nicht dort, sondern kamen erst ein Jahr später.

      Wir verbrachten dort einen herrlichen faulen Tag. Die einen streiften Abenteuer suchend durch den Wald, andere wateten wagemutig durch den Laubusbach, wobei der eine oder andere ein feuchtes Hinterteil davon zurückbehielt, und wieder andere betrachteten sich in den ein Stück von der Mühle entfernt liegenden Ställen die Pferde. Die vierte Gruppe – dazu zählte auch ich – saß im Reiterstübchen bei einer Flasche Cola und kaute am mitgebrachten Reiseproviant. Ich hatte mir in meiner überschwappenden Portugal-Euphorie einen Sprachführer Portugiesisch gekauft, war letztendlich aber gefühlsmäßig zu angespannt, um mir etwas davon im Gedächtnis zu behalten.

      Ich ging mit Patrícia am Ufer des Tejo entlang. Die Sonne schien hell und warm auf uns herab. Der Alltag mit seinen Problemen und Nöten war über zweitausend Kilometer von mir entfernt; stattdessen durfte ich mit Patrícia zusammen sein, dem Mädchen, dem mein ganzes Herz gehörte, und ich durfte zudem ein für mich noch völlig unbekanntes Land entdecken. Ich fühlte mich wie von einer Zentnerlast befreit, wie ein neuer Mensch. Endlich konnte ich frei atmen! Patrícia und ich setzten uns auf eine Bank. Ich legte vorsichtig meinen Arm um sie, was sie sich gerne gefallen ließ, und wollte gerade mit den Lippen ihre Wange berühren – da riss mich mein Schulfreund Leif aus meinen Träumen; wohl deshalb, weil ich darüber etwas eingenickt war und begonnen hatte, Geräusche von mir zu geben. Ich war so richtig über beide Ohren verliebt!

      Es war eines der ganz wenigen Male, dass ich mich auf die Schule freute; natürlich weniger auf die Schule selbst, wenngleich so kurz vor dem Schuljahresende kein Leistungsdruck mehr bestand, sondern – wie könnte es anders sein – auf Patrícia. Umso überraschter war ich, dass ich sie nirgendwo finden konnte, während ihre Klasse geschlossen zur Stelle war. Nanu, war sie vielleicht krank geworden? Als Patrícia am nächsten Tag wieder nicht auftauchte, hielt ich es nicht länger aus. Ich schwang mich aufs Fahrrad und machte mich auf den Weg zu ihr nach Hause. Ich kannte die Adresse ja aus dem Klassenbuch. Ich hatte natürlich nicht vor, aufs Geratewohl zu klingeln; den Mut dazu hätte ich im Leben nicht aufgebracht. Ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich sagen sollte. Trotzdem war es mir ein nagendes Bedürfnis, dort nach dem Rechten zu sehen, und sei es auch nur von außen. Die Familie Fernandes bewohnte ein hübsches einstöckiges Einfamilienhaus mit einem großen gepflegten Garten und zwei Garagen, das auf einen gewissen Wohlstand schließen ließ. Was mich überaus eigentümlich berührte, war die Tatsache, dass die Rollläden sämtlicher Fenster heruntergelassen waren. Ich ahnte Arges, nämlich, dass die Fernandes den Beginn der Ferien vorverlegt hatten. Ich fragte mich indes, wie Patrícia dies mit der Zeugnisausgabe hätte in Einklang bringen wollen, die ja erst morgen stattfinden sollte. Womöglich hatte sie es schon vorher bekommen; denn am nächsten Vormittag, dem letzten des laufenden Schuljahres, blieb sie genauso verschwunden wie die Tage zuvor.

      Eine Welt brach in mir zusammen. Der Gedanke, ganze sechs Wochen auf Patrícias Nähe – soweit man von Nähe sprechen konnte – verzichten zu müssen, drückte mir den Atem ab. Ich hatte das Gefühl, mir sei etwas Lebenswichtiges entzogen worden. Mir war schon damals durchaus bewusst, dass meine Reaktion maßlos überzogen war; doch vermochte diese Erkenntnis nicht annähernd, den Schmerz zu lindern, geschweige denn zu heilen, der sich wenige Tage später einstellte, als die Schockwirkung verflogen war. Die Vorstellung, dass Patrícia sich wahrscheinlich nun am Ufer des Tejo eine schöne Zeit machte und mich womöglich darüber vergessen würde – vor allem letzterer Gedanke quälte mich derart, dass mir tage- und nächtelang fast unaufhörlich die Tränen liefen. Für gewöhnlich tue ich mich mit Weinen ziemlich schwer, auch wenn ich es mir öfters herbeiwünsche. Es blieb nicht nur beim seelischen Schmerz; es stellten sich recht bald auch körperliche Schmerzen ein. Ich bin ziemlich anfällig für psychosomatische Leiden, und wenn es hart auf hart kommt, was man im Falle Patrícias mit Fug und Recht behaupten kann, schlägt es sich bei mir zuerst auf den Magen, wie bei vielen anderen Menschen auch. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich dem Schmerz viel zu viel Raum ließ. Wenn ich damals etwas mehr Unternehmungsgeist besessen hätte, hätte ich es gewiss nicht soweit kommen lassen, sondern irgendetwas unternommen, anstatt zu Hause herumzuhängen und mir in die Tasche, oder besser, in den Magen zu jammern. Mir ist auch klar, dass ich mit Sicherheit nicht so fürchterlich gelitten hätte, wenn jemand da gewesen wäre, der mir Verständnis für meine Situation entgegengebracht hätte und in der Lage gewesen wäre, mir Mut und Zuversicht zuzusprechen. Aber es war niemand da. Mit meiner Familie konnte ich dahingehend überhaupt nicht rechnen. Mein Schulfreund Leif kümmerte sich zwar recht rührend um mich und versuchte, das Gröbste von mir abzuhalten, indem er mich zu kleineren Wanderungen und Fahrradtouren anstachelte; doch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er gar nicht richtig begriff, wie nah mir die Patrícia Geschichte ging. „Warum um alles in der Welt lässt du dir von der doofen Portugiesin da so die Laune versauen?“, hatte er mich einmal in einer Mischung aus Unverständnis und Vorwurf gefragt. Ich hätte ihm dafür am liebsten einen ordentlichen Tritt in den Allerwertesten verabreicht, kam aber nicht umhin, mir einzugestehen, dass er mit dieser Frage völlig Recht hatte. Ich konnte ihm nicht einmal ins Gesicht schleudern, er habe davon keine Ahnung, knabberte er doch gerade selbst an einer schwierigen Herzensangelegenheit herum. Diese betraf eine Klassenkameradin, Jacqueline hieß sie. Leif war von ihr gewiss nicht minder fasziniert als ich von Patrícia; doch besaß er, und darum beneidete ich ihn, eine ganz andere Art, damit umzugehen. Er griff zu seiner Gitarre, die er übrigens sehr gut spielt, und sang sich den Druck von der Seele. Er schrieb manchmal sogar dafür eigene Lieder, wenn er der Ansicht war, es gäbe keines, was seinen Gefühlen Ausdruck verleihen könnte. Er verinnerlichte seinen Frust nicht so wie ich, sondern setzte ihn in Klang und Wort um, bevor der Frust sich festbeißen konnte. Damit löste er letztendlich auch die Probleme zwar auch nicht, verhinderte aber wenigstens dadurch, dass sie ihm zur unerträglichen Last wurden. Ich hatte ja zwei Instrumente zur Verfügung, die Violine und das Klavier; aber im Gegensatz zu Leif war ich wie gelähmt. Meine Finger gehorchten mir nicht; sie brachten nicht die Töne hervor, die ich spielen wollte. Leif hatte Recht; ich hatte meinem Kummer viel zu viel Spielraum gelassen. Leider war ich mir damals so vieler Dinge nicht bewusst! Ich fühlte mich mutterseelenallein, wünschte mir, dass meine Mutter wiederkäme; aber es blieb nur der Wunsch. Fast jede Nacht träumte ich von Patrícia. Sie ließ mir keine Ruhe.

      Als die ersten beiden Wochen der Sommerferien vergangen, waren hatte ich sieben Kilogramm an Gewicht verloren. Mein Vater, und das rechne ich ihm hoch an,