Ingo T. Herzig

Vinz


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Freunde führten uns durch die Schule und zeigten uns die musikalische Ausstattung, und Peggy ließ mich ihrer Klavierstunde beiwohnen. Fast schämte ich mich meiner bei weitem nicht so professionellen Künste, als sie und ihr Klavierlehrer mich am Schluss der Stunde baten, selbst etwas zum Besten zu geben; doch meisterte ich die Situation halbwegs zufriedenstellend.

      Ich war von allem höchst beeindruckt. Vor allem freute ich mich riesig darüber, dass wir neue Freunde gefunden hatten; aber am meisten freute es mich, dass Peggy, wie es aussah, ebenso viel Zuneigung für mich empfand wie ich für sie. Sie zeigte es vor den anderen nicht; doch die Tatsache, dass sie hin und wieder, wenn sich die Gelegenheit ergab, mir sanft über die Hand streichelte oder sie freundschaftlich drückte, machte mich dessen ziemlich sicher. Ich war verliebt!

      Leider konnte uns das College nur wenige Nächte als Quartier dienen; denn der Tag der Zeugnisübergabe, der das Schuljahr beschloss, stand unmittelbar bevor. Am Tage zuvor bekamen wir die Mitteilung, dass unsere „Hannelore“ gefunden worden sei. Natürlich war sie ausgeplündert und befand sich in einem desolaten Zustand. Glücklicherweise trug niemand von uns die Schuld daran. Sämtliche Türen waren verschlossen gewesen und professionell aufgebrochen worden. Es handelte sich also um einen Fall für die Versicherung, und das Einzige, was Leif und ich erledigen mussten, war ein Telefonat nach Düsseldorf an die Tuning-Firma. Dort sagte man uns, dass alles in Ordnung sei und wir uns keine Sorgen zu machen brauchten. Dies war schön zu hören. Bevor wir uns jedoch wieder auf die Reise begeben konnten, musste „Hannelore“ in die Werkstatt. Dies fiel zwar nicht zu unseren Lasten; doch stellte sich die Frage, wo Leif und ich nun nächtigen sollten. Das Wochenende stand nämlich vor der Tür, und keiner vermochte uns zu sagen, wie lange „Hannelores“ Reparatur dauern würde.

      In der Nacht zum letzten Schultag wurde in der Aula ordentlich gefeiert. Schüler wie Lehrer ließen es sich dabei gut gehen. Niemand störte sich an Leifs und meiner Anwesenheit. Mit einigen Lehrern, vornehmlich Deutschlehrern, entspannen sich interessante Unterhaltungen.

      Ich tanzte viel mit Peggy. Wir hatten die ganze Zeit nicht viele Worte gewechselt und doch herrschte zwischen uns ein Einvernehmen, als kennten wir uns schon sehr lange. So kam es mir vor.

      Am nächsten Mittag kamen die Eltern, um ihre Kinder abzuholen. Von Barry, James und den anderen hatten wir uns schon verabschiedet; doch wo war Peggy?

      Da kam sie und brachte ihre Eltern mit, ganz sympathisch wirkende Leute in den Vierzigern.

      „Bis euer Wagen fertig ist, könnt ihr bei uns wohnen“, sagte sie. „Ich habe das schon mit meinen Eltern geklärt. Sie sind einverstanden. Auf diese Weise kann ich euch etwas mehr von Schottland zeigen.“

      Wieder ein Problem gelöst! Ich konnte so viel Glück auf einmal gar nicht fassen und wusste nicht, wie mir geschah.

      Die Familie McSullivan bewohnte ein spitzgiebeliges villenähnliches Haus mit hohem Schornstein in einem kleinen Ort am Ufer des Loch Lomond, etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von Glasgow. Leif und ich bekamen ein schönes Gästezimmer und verlebten sehr angenehme Tage. Die McSullivans, allen voran Peggy, kümmerten sich rührend um uns und wurden es nicht müde, uns die Umgebung zu zeigen.

      Peggy und ich musizierten auch viel miteinander. Es stellte sich heraus, dass wir in puncto Musik fast den gleichen Geschmack hatten. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, und unsere gegenseitige Sympathie wuchs und wuchs – bis es zum ersten, ganz unvorhergesehenen Kuss kam.

      „Ich mag dich, Peggy!“

      „Ich mag dich, Vinz! Wenn du doch nur länger hierbleiben könntest!“

      „Ich weiß nicht – ich fürchte, das geht nicht.“

      „Warum nicht? An meinen Eltern liegt es bestimmt nicht.“

      Leif war hinaus in den Garten getreten. Ich bemerkte ihn indes erst, als er sich umdrehte und wieder davonging. In diesem Augenblick wurde mir siedend heiß bewusst, dass ich mich in letzter Zeit mehr Peggy als ihm gewidmet hatte. Zunächst hatte ich mir auch gar nichts dabei gedacht, arbeitete Leif doch an einem neuen Fahrzeugentwurf. Nun aber überkam mich ein schlechtes Gewissen.

      Ich lief eine Zeitlang draußen herum, bevor ich Leif fand. Er saß auf einem Felsen, von dem aus man einen wunderschönen Blick auf den Loch Lomond hatte, und ließ den Bleistift mit gewohntem Geschick über das Papier wandern. Er war indes nicht mit dem Entwurf seines neuen Fahrzeugs beschäftigt, sondern zeichnete den See, was ihm, soweit ich es beurteilen konnte, auch gut von der Hand ging.

      Ich setzte mich neben ihn und suchte nach passenden Worten; aber was sollte ich ihm sagen?

      „Leif … äh … es tut mir leid“, brachte ich schließlich hervor.

      „Ist schon gut, Vinz.“ Er hatte mich verstanden. Ich glaubte, aus seiner Stimme eine gewisse Traurigkeit herauszuhören; aber sie klang versöhnlich und wurde von einem wohlwollenden Lächeln begleitet. Mir war zwar noch nicht ganz wohl; doch wenigstens konnte ich aufatmen.

      Am nächsten Tag erfuhren wir, dass „Hannelore“ fertig und bereit zur Weiterreise sei. Mr. McSullivan fuhr mit Leif und mir nach Stirling, um das Wohnmobil aus der Werkstatt zu holen. Leif wäre am liebsten gleich von dort aus die Reise fortgesetzt; doch ich wollte Peggys Einladung annehmen und wenigstens eine Nacht im Hause McSullivan bleiben. Ich war traurig und Peggy war es auch; doch wollte ich es Leif nicht zumuten, uns länger beim Flirten zuschauen zu müssen, hatte er doch selbst die Affäre mit Klassenkameradin Jacqueline noch nicht ganz verdaut.

      In der Nacht fand ich kaum Schlaf. Es fiel mir schwer, die Tränen zurückzuhalten; aber ich wollte Leif nicht wecken. Irgendwann schlief ich schließlich doch ein. Als ich erwachte, war das Bett neben mir leer. Auch Leifs Sachen waren fort. Mir war sofort klar, dass es unnötig war, ans Fenster zu gehen und hinauszuschauen, ob „Hannelore“ noch dort stand. Auf dem Tisch lag ein Brief, in dem stand: „Hab noch eine schöne Zeit in Schottland, Vinz! Ich gönne es dir von Herzen! Leif!“

      „Er weiß halt genau, was in dir vorgeht“, sagte Peggy, als wir nach dem Frühstück am Ufer des Loch Lomond spazieren gingen. „Er fühlt mir dir. Du hast einen sehr guten Freund. Darüber kannst du dich freuen.“

      „Es stimmt“, seufzte ich gedankenverloren. „Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn täte. Ich hoffe, er ist nicht allzu sehr verletzt.“

      „Er versteht es doch, und du weißt es. Du würdest doch genauso handeln, oder?“

      „Natürlich.“

      „Könntest du dir vorstellen, hier in Schottland zu leben?“

      Als Antwort nahm ich Peggy in den Arm und drückte sie fest an mich. Wie in Trance begann ich das Lied vom Loch Lomond zu singen, und Peggy stimmte ein …

      * * *

      „By yon bonnie banks and by yon bonnie braes, where the sun shines bright on Loch Lomond“ – dieses Lied, das der Chor als Zugabe brachte, beschloss die Konzertveranstaltung, die mit tosendem, nicht enden wollendem Applaus belohnt wurde. Daraus sowie aus den begeisterten Gesichtern meiner Nachbarn, in denen mitunter vereinzelte Tränen aufblitzten, schloss ich, dass die musikalischen Darbietungen allen ans Herz gegangen waren. Mein Stimmungsbarometer war deutlich gestiegen.

      Glücklicherweise handelte es sich hier nicht um den Auftritt eines großen, berühmten, von Bodyguards streng bewachten Weltstars und so stellte es für mich kein Problem dar, mich nach der Aufführung hinter die Bühne zu schleichen und nach Peggy Ausschau zu halten. Ich musste mich durch einen engen Korridor und eine dichte Menschenmenge hindurchkämpfen; doch schon wenig später stand ich dem gesuchten Mädchen gegenüber.

      Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich Peggy aus unmittelbarer Nähe bewundern durfte. Es stellte sich nämlich heraus, dass sie um einiges jünger war, als ich die ganze Zeit gedacht hatte. Diese Feststellung berührte mich seltsam, geradezu peinlich, schmälerte jedoch nicht den Reiz, der von der jungen, etwa dreizehnjährigen schottischen Musikerin ausging.

      Diese schaute mir mit ihren großen dunklen Augen in die meinen, so als wollte sie mich bescheiden fragen: „Wie fandest du