Ingo T. Herzig

Vinz


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kannte, ging aber ohne zu murren mit, in der Vorstellung, dass es nur besser werden könne. Ich erzählte Dr. Hameyer, unserem Hausarzt, die Geschichte von Patrícia, obschon ich überzeugt davon war, damit nicht viel Eindruck zu hinterlassen. Wahrscheinlich würde der Arzt genau das wiederholen, was alle anderen auch sagten, nämlich: „Das ist doch ganz normal, die erste Liebe tut immer weh, das geht vorbei“ und ähnliche Sprüche. Ich wurde jedoch enttäuscht, und das im positiven Sinn: Dr. Hameyer sagte gar nichts; stattdessen signalisierten sein Blick und seine Miene Verständnis und das gab mir einen Ruck nach vorne. Er riet mir zu einem Tapetenwechsel. Wenn ich hier bliebe, meinte er, wo mich alles und jedes an Patrícia erinnere, könne ich ja keinen Abstand davon gewinnen. Dies war halbwegs auch an meinen Vater gerichtet, und ich glaubte, in seiner Miene Anzeichen schlechten Gewissens wahrzunehmen. Die ganzen letzten Jahre war von keinem Urlaub mehr die Rede gewesen, obschon wir uns vom Finanziellen her jedes Jahr mindestens einen hätten leisten können; aber seit dem Tod meiner Mutter kannte mein Vater fast nur noch seine Arbeit. Da es jetzt natürlich viel zu spät war, mich zu einer Ferienfreizeit anzumelden – diese waren ja schon längst am Laufen –, schickte er mich kurzerhand zu meiner Oma nach Ilbenstadt. Ilbenstadt gehört zur Stadt Niddatal – die ist nach dem Fluss Nidda benannt – und liegt bei Friedberg in der Wetterau. Die Wetterau ist eine schöne und fruchtbare Landschaft und liegt nordöstlich von Frankfurt. Ich bin dort geboren, genauer gesagt in Friedberg; aber aufgewachsen bin ich in Limburg. Aber die ganze Verwandtschaft mütterlicherseits sitzt in der Wetterau, zum Beispiel die Oma.

      Leif, der auch nicht verreist war, wurde sozusagen gleich mit eingepackt und mit der ehrenvollen Mission betraut, keine trübe Stimmung in mir aufkommen zu lassen. Die Kur half. Es gelang mir zwar nicht, Patrícia aus meinem Hirn und noch viel weniger aus meinem Herzen zu verbannen; doch war sie soweit in den Hintergrund gerückt, dass ich wieder klar denken, musizieren und vor allem wieder normal essen konnte, Letzteres nicht zuletzt dank der guten Küche meiner Oma. Ich erhielt mein altes Gewicht bis auf ein, zwei Kilo zurück. Trotz allem floss auch in Ilbenstadt die eine oder andere Träne wegen Patrícia und die Frage brannte mir auf der Seele, ob sie überhaupt zurückkommen oder stattdessen in Portugal zu bleiben gedächte. Wenn ich heute darüber nachdenke, scheint es mir unverständlich, wie ich mich emotional derart von einem Mädchen abhängig machen konnte, über das ich mir nicht das geringste Urteil erlauben konnte, weil ich sie überhaupt nicht näher kannte und im Grunde genommen auch gar keine Chance bestand, sie näher kennen zu lernen. Auf der anderen Seite aber muss man bedenken, dass damals in mir der unbeschreiblich große Wunsch nach einem Bezugspunkt vorhanden war.

      Wir blieben bis zum Ende der Ferien in der Wetterau. Leif und ich verbrachten auch viel Zeit draußen und machten entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Gegend unsicher oder badeten in der Nidda.

      In der Nacht zum ersten Schultag tat ich vor Aufregung kein Auge zu. Morgen würde ich Patrícia wiedersehen! Aber – würde sich unser netter, wenn auch lockerer Kontakt nach den Sommerferien genauso fortsetzen, wie er zuvor begonnen hatte? Ich wusste nicht, weshalb er es nicht tun sollte; schließlich hatte ich mir bei ihr nichts zuschulden kommen lassen, ihr vor allem nicht meine Liebe eingestanden.

      Während des Schulgottesdienstes hielt ich angestrengt Ausschau nach meinem Schwarm, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Das musste mich jedoch nicht verwundern, war doch die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Später sah ich Patrícia endlich im Schulgebäude. Sie trug ein buntes Sommerkleid und ihre langen braunen Haare in einem geflochtenen Zopf. Ihre Haut war deutlich dunkler als vor den Ferien, was mich zu dem Schluss veranlasste, dass sie geradewegs aus ihrer südlichen Heimat kam. Sie befand sich wie auch vorher meistens in Gesellschaft einiger Schulfreundinnen, die ebenfalls von der Sonne gebräunt waren und mit denen sie angeregt Urlaubserlebnisse austauschte. Dies sollte mich jedoch nicht davon abhalten, ihr einen Gruß zuzuwerfen, auch wenn ich vor Aufregung kaum noch Luft bekam. Aus meinem Portugiesischsprachführer hatte ich mir eigens eine Begrüßung in ihrer Muttersprache zurechtgelegt und auswendig gelernt. Ich postierte mich so, dass sie mich gar nicht übersehen konnte, und holte schon tief Atem.

      „Bom dia, Patrícia, como estás?“

      Das „Como estás?“ brachte ich nur noch mit der allergrößten Mühe heraus. Die Angesprochene sah mir eine Sekunde lang ins Gesicht und wandte den Blick wieder ab, so als hätte sie mich noch nie zuvor gesehen. Ohne sich umzudrehen, ging sie weiter. Mir war, als würde mir die Kehle zugeschnürt, und ein Anflug von Schwindel ließ es mir einen Augenblick lang schwarz vor Augen werden. Das war also das lang ersehnte Wiedersehen mit Patrícia gewesen! Ich konnte es gar nicht fassen. Wenig später war Leif zur Stelle, um mich zu unserem neuen Klassenraum zu holen. Er brauchte mir nur ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, was Sache war. Ich ließ mich jedoch nicht gleich entmutigen, obschon es mir sehr schwerfiel, die Nerven zu behalten, und suchte am nächsten Tag eine neue Gelegenheit, Patrícia zu begegnen. Das Resultat war das gleiche wie am Tag zuvor; es sah ganz danach aus, als existierte ich nicht mehr für sie. Ich fragte mich, wie so etwas hatte kommen können. Hatte ich mich vielleicht ihr gegenüber irgendwie danebenbenommen, ohne es zu bemerken? Wann hätte dies geschehen sollen? Bis zu dem Tag, da wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, am Abend des Sommerkonzertes, war doch alles in Ordnung gewesen! Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wieso Patrícia mich auf einmal schnitt wie jemanden, der es nicht besser verdient. Nicht einmal die Uhrzeit wollte sie mir mehr sagen. Ich verstand die Welt nicht mehr und spürte, wie sich mein Magen wieder meldete. Leider gab es diesmal keine Ausweichmöglichkeit zur Oma. Es half nichts; ich musste dadurch, und dieses Dadurch währte lange. Patrícias abweisende Haltung mir gegenüber hielt auch die kommenden Wochen und Monate an, ohne dass sich das Mindeste daran ändern ließ. Es kostete mich viel Mühe, mich nicht aufs Neue von meinen Gefühlen niederwalzen zu lassen. Schließlich kam ich irgendwann dahinter, dass es außer Energieverlust nichts brachte, etwas Vergangenem hinterherzutrauern, das um nichts in der Welt wieder Gegenwart werden wollte, und fand etwas Abstand zu Patrícia. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich den Hebel ja später noch einmal würde ansetzen können, wenn Gras über die Sache gewachsen war. Von diesem Gedanken lebte ich die folgenden Monate und beachtete Patrícia – nach außen hin – nunmehr ebenso wenig wie sie mich.

      So ging es über ein Jahr lang. Zwischendurch hatte ich Gelegenheit, zwei von Patrícias Klassenkameraden kennen zu lernen, von denen ich ein paar ganz interessante Dinge über mein Herzblatt erfuhr, so zum Beispiel, dass ihre Begabung vornehmlich in den Naturwissenschaften lag. Sie vertrete, so die beiden Jungen, ganz eigenwillige Meinungen und wolle stets Recht haben, was mitunter dazu führe, dass sie in Mathematik und Physik mit ihrem Lehrer in Streit gerate. Der deutlich missbilligende Ton, den die beiden Jungen im Zusammenhang mit Patrícia anschlugen, ließ erkennen, dass sie nicht sonderlich viel von ihrer Mitschülerin hielten. All dies ernüchterte mich ein Stück weit; leider aber wich die Ernüchterung bald einem neuen Brennen.

      Einige Zeit später kursierte ein Rundschreiben durch alle Klassen, worin Dr. Wirbelauer, der Leiter des Fachbereichs Musik, um Nachwuchs fürs Schülerorchester warb. Als ich ein paar Tage später zu Hause Geige übte, kam mir Dr. Wirbelauers Rundschreiben noch einmal in den Sinn, und da mir mein Geigenlehrer empfohlen hatte mich einem Orchester anzuschließen, um auch das Musizieren zusammen mit anderen zu lernen, begann ich mir ernsthaft zu überlegen, ob ich meine Künste nicht dem Schulorchester zur Verfügung stellen sollte. Ich hielt mich durchaus für ausreichend fortgeschritten und traute es mir auch zu; aber beim Gedanken daran, mich voll und ganz nach anderen richten zu müssen, wurde mir etwas mulmig zumute. Kein Wunder, hatte ich mich doch bislang im wahrsten Sinne des Wortes der Kammermusik gewidmet, das heißt, im stillen Kämmerlein vor mich hin gegeigt. Ich hätte die Entscheidung, ob ich dem Orchester beitreten sollte oder nicht, sicherlich hinausgeschoben oder vielleicht sogar ganz verworfen, wenn mir nicht auf einmal siedend heiß eingefallen wäre, dass Patrícia nach wie vor im Schulchor mitsang. Wenn ich mich also tatsächlich dazu entschlösse, im Orchester mitzuwirken, würde ich damit eine neue Kontaktbasis zwischen Patrícia und mir schaffen. Schon am folgenden Tag wandte ich mich an Dr. Wirbelauer, den ich früher selbst schon als Musiklehrer gehabt hatte, um ihm meine Künste anzubieten, obschon ich eigentlich gar nicht darüber zu Ende reflektiert hatte, ob ich wirklich Lust dazu hatte oder nicht. Die eigentliche Motivation war Patrícia, und das war hier gewiss ein Vorteil; ansonsten wären mir, wie ich mich kenne, tausend Gründe eingefallen,