Ingo T. Herzig

Vinz


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ein rundlich gebauter Mann, Ende vierzig, mit einem gutmütigen, pausbackigen Gesicht und einer sehr gut geschulten Baritonstimme, bat mich gleich am selben Nachmittag mit Violine zu sich, um meine Kunst zu prüfen. Trotz einer Reihe von Ausrutschern, die von Unsicherheit und Aufregung herrührten, war er ganz zufrieden mit mir und bestellte mich gleich zur nächsten Orchesterprobe.

      Es brauchte eine gewisse Zeit, bis ich mich ans Orchesterleben gewöhnte. Als ich indes erst einmal richtig Fuß gefasst hatte, fragte ich mich, wieso ich nicht schon längst auf die Idee gekommen war, zum Schulorchester zu stoßen; ebenso, wie ich mich bei meinem ersten Sommerkonzertbesuch gefragt hatte, warum es mich nicht schon früher dorthin verschlagen hatte. Ich arbeitete mich schließlich so gut ins Orchesterleben ein, dass es gar nicht lange dauerte, bis ich die erste Geige übernehmen durfte, worüber ich mich sehr freute.

      Als die Proben fürs nächste Sommerkonzert begannen, begann auch die Zusammenarbeit mit den Jahrgangsstufenchören und damit die Zeit, da ich sozusagen beruflich mit Patrícia zu tun bekam. Tatsächlich fiel nach und nach die Barriere, die sie zwischen sich und mir errichtet hatte. Wenn ich sie ansprach, bekam ich wieder Antwort, die oftmals sogar wieder von einem Lächeln begleitet wurde, so dass ich mich manch für die Dauer mehrerer Sekunden in alte Zeiten zurückversetzt fühlte. Was hingegen Patrícia betraf, wollte es so aussehen, als erinnere sie sich nicht daran, dass wir vor fast genau zwei Jahren schon einmal miteinander gesprochen hatten. Es war so, als wären wir uns durch die Chor- und Orchesterarbeit zum allerersten Mal begegnet. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, dass sie sich überhaupt nicht mehr an mich erinnerte; aber wusste ich, was alles in ihr vorging?

      Eigentlich hätte ich mich darüber freuen sollen, dass die Berliner Mauer, die Patrícia zwei Jahre lang absolut dicht von mir abgeschottet hatte, niedergerissen war. Es kam mir sogar so vor, als sei Patrícia mir recht wohl gesonnen, so wie ihre Augen und ihr Lächeln mich manchmal anstrahlten. Dahinter lag jedoch nichts Schwärmerisches, dafür aber gewiss eine gesunde Sympathie, die sich vielleicht sogar hätte ausbauen lassen, wenn ich mich genug darum bemüht hätte.

      Wenn ich gewollt hätte! Ich erwiderte ihre Sympathie; aber, und das erschreckte mich beinahe, mehr empfand ich nicht. Die große Faszination war verschwunden; das wurde mir erst jetzt bewusst. Die zwei Jahre vergeblicher Liebesmühe hatten so sehr an meinem Gefühlshaushalt gezehrt, dass meine große Liebe, mit der alles begonnen hatte, abgekühlt war und nichts weiter als eine den Rahmen nicht sprengende Sympathie zurückblieb. Obgleich ich heilfroh war, den Fall Patrícia Fernandes zu den Akten legen zu können, bedauerte ich diese Entwicklung auf der anderen Seite. Immerhin hatte ich Patrícia zwei Jahre lang heiß und innig geliebt – vielleicht sollte ich besser sagen: umschwärmt und nicht wenig darunter gelitten und nun war alles verpufft, ohne irgendetwas zurückzulassen, außer vielleicht der Erfahrung so ein brennendes und doch unglückliches Verliebtsein einmal durchgemacht zu haben. Mir war ja noch nicht einmal die „Chance“ vergönnt gewesen, irgendeinen dummen Fehler bei Patrícia zu begehen, für den ich mich zwar wochenlang geschämt, aber wenigstens eine Lehre fürs Leben gezogen hätte.

      Jedenfalls ist mir keiner bewusst. Alles hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, und das frustrierte mich ein wenig. Ich fühlte mich regelrecht um meine Gefühle betrogen, die ich in Patrícia investiert hatte. Glücklicherweise kam ich nicht dazu, lange darüber zu sinnieren; denn ich lernte ziemlich bald darauf Claudia kennen, das Mädchen vom Reiterhof Ponderosa, das ich vorhin schon mal kurz erwähnt habe.

      Jetzt im Juni habe ich Patrícia wie gesagt beim diesjährigen Sommerkonzert wieder getroffen. Genau wie damals kam ich erst nach dem Konzert dazu, mit ihr zu sprechen. Sie hatte sich eigentlich kaum verändert; sie trug die Haare in etwa noch so lang wie früher und benutzte noch das gleiche Parfüm und ihre Stimme klang noch genauso samtweich wie die einer Katze.

      Das Wiedersehen war überaus herzlich. Wie zwei gute alte Freunde, die sich nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder begegnen, sanken wir einander in die Arme und konnten uns gar nicht genug danach ausfragen, was wir denn jetzt so machten. Sie erzählte mir, dass sie nun in Guarda in Portugal Wirtschaftswissenschaften studiere und sich kürzlich dort verlobt habe. Ich gestehe, dass mir diese Neuigkeit einen ganz leisen Stich in die Herzgegend versetzte. Eine gewisse Verbundenheit mit früheren Herzdamen bzw. -buben scheint das ganze Leben lang bestehen zu bleiben, und sei dieser Faden auch noch so dünn.

      Ich erzählte ihr, dass ich dank ihr der Musik treu geblieben sei.

      „Dank mir?“, fragte sie ungläubig.

      „Dank dir“, bestätigte ich und erzählte ihr aufs Geratewohl in Kurzfassung die Geschichte, die ich jetzt dir erzählt habe, wobei ich indes das Leidenskapitel aussparte. Dieses ließ ich einmal aus Zeitgründen weg und zum anderen wollte ich bei ihr keinesfalls den Eindruck erwecken, Mitleid, Bewunderung und Anerkennung erheischen zu wollen. Dafür kam ich in den Genuss einer aus allen Wolken fallenden Patrícia, die, wie allein schon ihr Gesichtsausdruck verriet, nicht das Mindeste davon geahnt hatte, dass ich einmal in sie verliebt gewesen war. Sie schloss mich noch einmal in die Arme und küsste mich auf die Wange. Dann gab sie mir ihre Adresse in Guarda und lud mich ein – nein, sie forderte mich regelrecht dazu auf, sie unbedingt zu besuchen, sollte es mich mal nach Portugal verschlagen. Ich habe ihr neulich geschrieben. Ich weiß nicht, warum; vielleicht, um zu testen, ob sie wirklich antwortet.«

      * * *

      Ich war beeindruckt, sowohl von der Geschichte, die er mir eben erzählt hatte, als auch von ihm selber. Ich habe schon eine ganze Reihe junger Männer kennen gelernt, bin mit einigen davon fest befreundet gewesen; aber nie hat jemand von ihnen so offen und ehrlich über seine Gefühle, Sorgen und Nöte, Wünsche und Hoffnungen gesprochen wie mein Mitreisender; auch diejenigen nicht, mit denen ich mich am besten verstand. Ich muss allerdings zugeben, dass es mir selber auch nie eingefallen wäre, Tiefgreifendes von mir nach außen zu tragen. Das war für mich eigentlich nie ein Thema gewesen. Die Interessen, die mich mit meinen Freunden verbanden, waren eher oberflächlicher Natur wie Disco oder die Frage, was am Wochenende anzustellen sei. Vielleicht sind gerade deswegen alle meine Beziehungskisten in die Brüche gegangen.

      Nachdem mir mein Reisegenosse seine halbe Lebensgeschichte offenbart hatte, hielt ich es allmählich für angebracht, mich ihm vorzustellen.

      »Ich heiße übrigens Susanne«, sagte ich zu ihm, »aber meine Freunde nennen mich Su. Und du?«

      »Vinzenz«, antwortete er, »und meine Freunde nennen mich Vinz.«

      Auf meine Frage, wo er normalerweise studiere, erwiderte Vinz, er habe in Würzburg angefangen zu studieren. Nach zwei Semestern sei er jedoch gezwungen gewesen, das Studium zu unterbrechen, da er zum Zivildienst einberufen worden sei. Der habe ihn hoch nach Norddeutschland verschlagen. Wie er den Zivildienst erwähnte, wurde er auffallend ruhig und besinnlich und flüsterte den Namen »Sheila« vor sich hin. Bevor ich ihn jedoch fragen konnte, wer jene Sheila sei, fand er zu sich zurück und erzählte weiter, dass er nach dem Zivildienst gleich nach Schottland gegangen sei. Für das kommende Semester habe er sich wieder an der Uni in Würzburg eingeschrieben. Hierauf fragte er mich im Gegenzug, was ich denn so triebe, und ich erzählte ihm, dass ich aus St. Gallen stamme und in Bern Zahnmedizin studiere. Er habe sich schon gedacht, meinte er, dass ich aus der Schweiz käme; der Akzent sei unverkennbar. Dann könne ich ja mal, fuhr er fort, nach seinen Zähnen schauen. Ich musste ihn jedoch um Geduld bitten; denn ich hatte gerade erst das zweite Semester hinter mir. Ich überlegte hin und her; doch er wollte mir partout nicht mehr einfallen, was ich Vinz hatte fragen wollen. Das Einzige, woran ich mich erinnerte, war, dass ich ihn etwas hatte fragen wollen. Stattdessen erkundigte ich mich, was es mit jener Claudia vom Reiterhof auf sich habe, die in seiner Erzählung aufgetaucht war. Ich betonte, dass ich keineswegs überneugierig sein wolle, setzte aber gleich hinzu, dass ich seine Art zu erzählen als sehr angenehm empfand. Vinz fühlte sich sichtlich geschmeichelt und versicherte, es mache ihm nichts aus, mir auch von Claudia zu erzählen, wenngleich sie kaum etwas mit mir gemein habe und es von ihr eigentlich nicht viel zu erzählen gebe, außer dass sie heute zu seinen allerbesten Freunden gehöre.

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