Ole R. Börgdahl

Alles in Blut


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      »Moment!«, sagte Bruckner. Er hatte noch etwas in dem Umschlag. Es war eine Klarsichthülle, in der tatsächlich das alte Zeitungspapier steckte. »Hamburger Abendblatt vom 27. September 2003, Samstagsausgabe. Im rechten Nachttisch lag der Politikteil mit der Doppelseite eins, zwei, fünf und sechs. Links der Hamburgteil mit der Doppelseite sieben, acht, dreizehn und vierzehn. Nach Aussage des Hotelpersonals wurden die Schubfächer der Nachttische immer mit Zeitungspapier ausgelegt. Das gefundene Zeitungspapier wurde direkt nach der Renovierung eingelegt.«

      »Gut, was gab es noch?«, fragte ich.

      Bruckner sah mich an. Er hielt die Papiere in die Höhe. »Das war es, ein fünfseitiger Bericht und zwanzig, nein einundzwanzig Fotografien. Die Leiche wurde eingeäschert, es gab ja keine Angehörigen und die Einäscherung ist billiger, als wenn die Stadt eine Grabstelle für einen Unbekannten vorhalten muss, das ist so üblich. Die Urne wurde dann anonym beigesetzt.«

      »Fünf Seiten! Ziemlich knapp.« Ich streckte meine Hand aus und Bruckner gab mir den Bericht. Die Seiten waren zwar eng beschrieben, aber fünf Seiten sind dennoch verdammt wenig. Beim NYPD arbeiten zwar auch keine Literaten, aber unsere Berichte waren nie kürzer als vierzig, fünfzig Seiten. Bruckner hatte meine Gedanken wohl erraten. Er zuckte mit den Schultern.

      »Der Fall hat eben Potential zum ewigen Cold Case«, sagte er fast schon resignierend.

      Ich weiß nicht, ob er von mir an dieser Stelle ein Wunder erwartet hatte. Er sah mich zumindest so an. Wir schwiegen einige Zeit. Dann machte ich ihm die Situation klar. Zunächst einmal gab ich ihm recht.

      »Es sieht tatsächlich nach einem ewigen Cold Case aus«, sagte ich, »aber so etwas gibt es natürlich nicht.«

      »Was gibt es nicht?«

      »Es gibt keinen Todesfall, keinen Mord oder Selbstmord oder Unfall, der nicht irgendwann aufgeklärt werden kann. Kein Opfer bleibt ewig unbekannt. In der Theorie gibt es das nicht.«

      »In der Theorie?« Bruckner lächelte. »Haben Sie das Ihren Studenten erzählt?«

      »Könnte sein.«

      »Ach, und was heißt das jetzt?«, fragte Bruckner leicht spöttisch.

      »Gut, es gibt keine verwertbaren Spuren, aber wir haben eine Leiche, etwas, dass einmal ein Mensch war.«

      »Wir hatten eine Leiche.« Bruckner beugte sich etwas vor und faltete die Hände über der Brust.

      »Mir ist klar, dass die Leiche heute nicht mehr existiert, aber ich gehe davon aus, dass die deutsche Polizei und ihr Apparat die Leiche intensiv untersucht hat.« Ich zeigte auf den Bericht. »Diese Untersuchungsergebnisse müssen die Basis für die Identifikation sein. Wenn wir wissen, wer der Tote war, dann wird es sehr schnell weitere Lebende oder Tote geben, die mit ihm in einer Beziehung standen. Unter diesen Menschen kann der Täter sein, wenn es einen Täter gibt.«

      »Ich weiß nicht«, Bruckner schüttelte den Kopf. »Ihnen muss doch klar sein, dass wir all diese Möglichkeiten schon erwogen haben.«

      »Was wurde denn unternommen?«

      Bruckner lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und zögerte einen Moment. Er sah mich fragend an. »Sie können davon ausgehen, dass seinerzeit alles unternommen wurde, den Mann zu identifizieren, über DNA bis hin zu zivilen und polizeilichen Datenbanken.«

      »Was ist mit Interpol?«, fragte ich.

      »Selbstverständlich, das ist Standard.« Bruckner lächelte.

      »Krankenhäuser? Vielleicht war der Mann Patient einer Klinik und hat sich davongemacht, um in Ruhe zu sterben. Da war doch so eine Narbe am Knie?«

      »Wissen Sie, wie viele Knieoperationen es in Deutschland jedes Jahr gibt und die Narbe war nicht mehr frisch. Es gab an der Leiche auch keine Hinweise, dass der Mann wegen einer anderen Sache in einem Krankenhaus behandelt wurde.«

      »Und was ist mit dem Herz? Wegen seiner Herzprobleme könnte er doch in Behandlung gewesen sein.«

      »Ich weiß es nicht«, sagte Bruckner schon fast ärgerlich. »Ich denke der Pathologe hätte einen Hinweis gegeben, wenn der Mann ein akuter Herzpatient gewesen wäre und man hätte sich an die Krankenhäuser gewendet oder an Kardiologen, oder wie die heißen. Dem war aber wohl nicht so und Sie können sich ja denken, wie viele Leute einen Herzinfarkt haben, ohne jemals Herzpatienten gewesen zu sein.«

      »Und! Wurde ein Foto des Mannes in der Presse veröffentlicht?«

      Bruckner stutzte. »Das kann ich jetzt nicht sagen ... ich müsste ...« Bruckner richtete sich in seinem Sessel auf. »Das müsste ich noch einmal überprüfen und wenn ja, dann kann dabei nichts rausgekommen sein, sonst wäre es in der Akte vermerkt.«

      »Gehen Sie doch einfach jetzt noch einmal an die Presse. Was sind denn schon acht Jahre. Irgendjemand wird ihn bestimmt erkennen, machen Sie es landesweit, meinetwegen deutschlandweit.« Ich überlegte kurz. »Oder noch besser, europaweit. Es gibt doch jetzt nur noch Europa, veröffentlichen Sie ein Foto in den internationalen Zeitungen auf dem ganzen Kontinent, dann wird es sogar darüber hinaus bekannt, vielleicht leben ja Angehörige des Mannes in den USA oder in Australien.«

      Bruckner lächelte erneut. »Ihre Vorschläge in allen Ehren, aber hier handelt es sich nicht um die Suche nach einem Staatsfeind oder um die Suche nach dem Erbe eines Millionenvermögens. Ich weiß nicht, welcher Aufwand gerechtfertigt ist.« Bruckner zögerte. »Gut, wir könnten das Foto des Mannes noch einmal in der Hamburger Presse veröffentlichen, das wäre möglich, ich hatte nur gehofft, dass Sie eine richtig zündende Idee hätten, etwas, das wir übersehen haben, das dann schnell zum Erfolg führt. Wenn so etwas nicht von Ihnen kommt, dann ist das ja auch nicht tragisch, dann bleibt es eben ein Cold Case.« Bruckner nickte bei seinen letzten Worten.

      »Was Sie mir geliefert haben, ist aber recht dürftig, das wissen Sie doch.« Ich beugte mich vor und wischte mit der Hand über den Tisch und verteilte die Fotografien. »Kennen Sie das Prinzip des Staging, der Tatortinszenierung. Als ich die Fotos gesehen habe, dachte ich zunächst, dass uns der oder die Täter auf etwas hinweisen wollten oder dass sie eine falsche Spur legen wollten, aber das kann ich beim besten Willen nicht erkennen.«

      »Staging, falsche Spuren«, sagte Bruckner. »Am effektivsten ist es doch, wenn man keine Spuren hinterlässt und das haben der oder die Täter ja auch sehr gut hinbekommen.« Er sah mich einige Sekunden lang an, dann räusperte er sich. »Also, wenn Ihnen nichts sonst aufgefallen ist, wenn es nichts gibt, das uns schon bekannt ist, dann sollten wir das hier jetzt beenden. Ich möchte mich aber bedanken ...«

      »Der Mann könnte aus der Ukraine stammen«, sagte ich, noch bevor Bruckner seinen Satz beendet hatte. »Aus Weißrussland, aus Armenien oder aus einer anderen Sowjetrepublik.«

      »Bitte? Sowjetrepublik?« Bruckner hatte schon begonnen, die Unterlagen vom Tisch aufzusammeln. Er hielt in der Bewegung inne und sah mich an.

      »Welche Sowjetrepubliken gab es?«, fragte ich.

      »Moment, wie kommen Sie jetzt darauf?« Bruckner schien wirklich irritiert.

      Ich überlegte selbst. »Estland, Turkmenistan, Kirgisien, nein, Kirgisien nicht, aber Lettland, Litauen, Moldau.«

      »Halt, halt, halt! Da komme ich jetzt nicht mit.« Bruckner klang beinahe empört. »Warum Sowjetrepubliken? Sie meinen, der Tote war Ausländer?«

      »Das kann ich nicht sagen.«

      »Was dann, was können Sie dann sagen?«

      »Der Tote hat meiner Ansicht nach seine Kindheit und vielleicht auch seine Jugend in einem Mitgliedsstaat der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbracht.«

      »Jetzt verstehe ich«, sagte Bruckner, »oder auch nicht. Wie kommen Sie darauf, was hat Sie zu dieser Annahme veranlasst?«

      »Stimmt, Annahme ist die richtige Bezeichnung dafür«, antwortete ich. »Ich kann es jetzt und hier natürlich nicht beweisen.« Ich suchte auf dem Tisch nach zwei der Fotografien. »Der Pathologe