Tage waren für Hanno vergangen. Er saß morgens mit seinem Vater beim Frühstück und trank mit ihm Kaffee.
„Ich muss heute in die Stadt fahren und mich mit meinem Galeristen treffen“, sagte der Vater. „Du kommst ja alleine zurecht. Spätestens zum Abendbrot bin ich zurück.“
„Alles klar, Papa, mach dir keine Sorgen um mich“, antwortete Hanno.
Danach brach sein Vater mit der alten Ente auf. Hanno verbrachte den ganzen Tag in seinem Zimmer und las. Den ersten Roman hatte er längst durch und begann nun mit dem zweiten Buch. Es war ein Sachbuch über Urzeitwesen.
Als sein Vater bis zum Abend nicht zurückgekehrt war, machte sich Hanno zunächst Sorgen. Er dachte jedoch, dass es keinen ernsthaften Grund dafür geben könnte. Entweder dauerte das Treffen mit dem Galeristen unvorhersehbar länger oder es war ihm etwas Wichtiges dazwischengekommen, das ihn aufhielt. Vielleicht war er auch mit dem altersschwachen Auto liegengeblieben und musste es abschleppen lassen. Nachdem sein Vater bis Mitternacht immer noch nicht eingetroffen war, legte sich Hanno hin und schlief ein.
Beim ersten Tageslicht stand der Junge auf und lief sofort in die Küche. Dort sah er seinen Vater am Frühstückstisch sitzen. Er war spät in der Nacht zurückgekehrt.
Hanno war froh, ihn wiederzusehen, und begrüßte ihn voller Freude: „Hallo Papa, schön, dass du wieder da bist. Ich hatte dich gestern schon vermisst.“
„Tut mir leid, Hanno. Ich musste unerwartet noch etwas Dringendes erledigen“, entgegnete sein Vater ihm knapp.
Der Junge fragte nicht nach, da sein Vater ihn auch nie ausfragte. Er würde ihm erzählen, was passiert ist, wenn er es für angebracht hielt.
Hanno stellte verwundert fest, dass sein Vater Mineralwasser zum Frühstück trank, und schlug ihm vor: „Soll ich dir Kaffee kochen?“
„Nein, bitte nicht“, antwortete sein Vater. „Ich habe es mit dem Magen. Ich vertrage keinen Kaffee.“
„Gut, dann mache ich dir einen schönen Tee“, bot der Junge ihm an.
Der Vater wurde ungeduldig und sagte: „Nein, bitte auch keinen Tee. Ich nehme nur Wasser.“
Daraufhin wollte Hanno für sich selbst Kaffee kochen, fand aber in der Küche keinen. Auch schwarzer Tee war nicht auffindbar. Daher musste der Junge wie sein Vater Mineralwasser zum Frühstück trinken.
Es war ein heißer Tag, zu dem kaltes Sprudelwasser viel besser passte als Kaffee oder Tee. Bereits in den frühen Morgenstunden war es unerträglich warm. Es gab nur eines, was Hanno bei so einem Wetter Sinnvolles tun konnte. Nicht weit vom Bauerhof gab es einen kleinen See mit klarem Wasser, in dem er in den vergangenen Jahren oft gebadet hatte. An einer Stelle am Ufer lag feiner Sand, der fast aussah wie am Strand. Hier saß der Junge gerne und stellte sich vor, dass er als Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel gestrandet war oder dass er ein berüchtigter Seeräuber war, der nach vergrabenen Schätzen suchte. Er konnte an diesem idyllischen Ort die ganze Zeit ungestört träumen. Dorthin wollte er heute, damit er die Hitze des Tages besser ertragen konnte.
Als Hanno den kleinen Strand erreichte, war er außer sich. Charline lag dort auf einem Badehandtuch und sonnte sich. Sie trug einen knappen, zweiteiligen Badeanzug, in dem sie noch hübscher aussah als ohnehin schon. Neben ihr kniete Timmi und spielte im Sand. Hanno war wütend auf Charline. Nichts von dem, was er für sich in den letzten Jahren hier erobert hatte, war ihr heilig.
Er ging achtlos an ihr vorbei und wollte sich ebenfalls am Strand niederlassen.
„Pass auf, Hanno!“, rief Timmi plötzlich. „Du hast meine Sandburg zertrampelt. Bring die sofort wieder in Ordnung!“
Charline schreckte hoch. Offenbar hatte sie gedöst.
„Los, hilft Timmi, seine Sandburg zu reparieren!“, sagte sie scharf zu Hanno.
„Wieso sollte ich?“, entgegnete Hanno voller Zorn.
Charline stand auf, stellte sich vor ihm hin und stemmte die Fäuste in ihre Hüften.
„Dann entschuldige dich wenigstens bei ihm!“, sprach sie in sachlichem Tonfall.
„Wie komme ich dazu?“, erwiderte Hanno genervt.
Er wollte weitergehen, aber Charline versperrte ihm den Weg. Hanno war nicht derjenige, der von sich aus Streit suchte, sondern vermied ihn stets. In den letzten Tagen hatte sich aber in ihm so viel Wut auf Charline aufgestaut, dass er nicht anders konnte und sie voller Verzweifelung wegstieß. Der Junge war fest davon überzeugt, dass er damit diese unangenehme Situation vorerst beenden konnte. Jedoch hatte er sich in Charline getäuscht, denn sie nutzte den Schwung seiner Bewegung geschickt aus und brachte ihn zu Fall.
Einen Augenblick später lag er auf dem Boden im Sand. Charline stürzte sich auf ihn, schlang ihre langen Beine um seinen Hals und verhakte ihre Füße ineinander. Mit ihren Schenkeln drückte sie ihm dabei die Luft ab. Er spürte die starken Muskeln in ihren Beinen. Der Junge wollte sich befreien, es gelang ihm jedoch nicht. Er schnappte nach Luft, aber er bekam kaum welche. Langsam wurde ihm schwindelig. Hanno sah ein, dass er nichts gegen dieses Mädchen auszurichten vermochte. Sie hatte ihn in ihrer Gewalt. Er wollte ihr sagen, dass es ihm leid täte und dass sie damit aufhören sollte. Ohne Atem zu bekommen, konnte Hanno aber nicht sprechen.
Seine Luft wurde immer knapper. Verzweifelt tastete er mit seinen Händen auf dem sandigen Untergrund umher, um nach einem Halt zu suchen. Der feine Sand rann durch seine Finger. Auf ein Mal spürte er etwas Hartes an seinen Fingerspitzen. Es war ein Stein, der so groß wie seine Faust war. Er nahm ihn in seine Hand und schlug ihn mit aller Kraft, die er noch besaß, auf Charlines Knie. Das Mädchen schrie laut auf und ließ Hanno augenblicklich los.
„Spinnst du?“, rief sie. „Das tut weh.“
Sie wandte sich von ihm ab und kümmerte sich um die schmerzende Stelle an ihrem Bein. Wankend stand der Junge auf.
Nun ging Timmi auf ihn los und brüllte ihn an: „Was fällt dir ein, meiner Schwester weh zu tun?“
Er versuchte nach Hanno zu schlagen, aber der wehrte ihn ab und hielt ihn auf Distanz, sodass ihn seine Schläge nicht erreichen konnten.
Nachdem Charline ihr Knie begutachtet hatte und festgestellt hatte, dass sie nicht ernsthaft verletzt war, sprang sie auf.
Sie stürmte auf Hanno zu und schrie ihn zornig an: „Lass sofort Timmi los. Das könnte dir so passen, dich an Kleineren zu vergreifen, du Feigling.“
Es interessierte sie dabei nicht, dass es Timmi war, der ihn angegriffen hatte. Mit einigen gezielten Schlägen und Tritten schlug sie Hanno zusammen. Ihm wurde bewusst, dass Charline vorher nur mit ihm gespielt hatte, um ihm ihre körperliche Überlegenheit zu zeigen und ihn zu demütigen. Nun aber spürte er, dass es ihr ernst war. Ein letzter kräftiger Stoß von ihr in seine Magengrube und Hanno sackte benommen zusammen.
Sofort ließ das Mädchen von ihm ab. Als wenn nichts gewesen wäre, legte sie sich erneut zum Sonnen auf ihr Handtuch und Timmi spielte friedlich neben ihr im Sand.
‚Immerhin besitzt sie so viel Anstand, dass sie mich nicht mehr schlägt, nachdem ich zu Boden gegangen bin’, dachte Hanno sich.
Das war er von dem fiesen Berti nicht gewohnt. Der hätte ohne Rücksicht weiter auf ihn eingeprügelt und getreten, auch wenn Hanno längst wehrlos dalag.
Langsam raffte sich der Junge auf. Er sammelte seine Badesachen ein, die verstreut im Sand lagen und zog ein Stück weiter. Am Ufer fand er eine andere geeignete Stelle, an der er sich niederlassen konnte. Dort gab es zwar keinen Strand, aber dafür eine schöne Wiese. Außerdem war sie ausreichend weit von Charline entfernt. Hanno badete ausgiebig, um sich abzukühlen.
Er ärgerte sich maßlos über den Zwischenfall mit Charline. Dabei waren es nicht ihre Schläge und Tritte, die ihm weh taten. Der Junge war es von dem fiesen Berti und seinen Mitschülern gewohnt, verprügelt zu werden. Viel mehr ärgerte er sich über sich selbst, dass er es nicht geschafft hatte, seine Wut gegenüber dem Mädchen zu beherrschen. Hanno hätte viel lieber mit ihr gemeinsam etwas Schönes unternommen. Das war aber nach diesem Aufeinandertreffen