Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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dezenter Mensch. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse haben, so berichtete er mir, unumstößlich geklärt, dass Keith das Gift während des Festes am Neujahrsabend zu sich genommen hat. Mir ist das unbegreiflich! Das sagte ich ihm auch.«

       Amanda schien zu schaudern: »Mir steht ein solches Gespräch noch bevor. Sagen Sie, was wollte Scotland Yard von Ihnen wissen?«

       Dieses Thema schien Beeverell auf den Magen zu schlagen. Schwerfällig erhob er sich und ging zur Tür. Der Wirt reagierte schnell und nahm die Bestellung eines doppelten Whisky auf Eis entgegen; alle anderen waren mit den Getränken vor sich auf dem Tisch noch ausreichend versorgt. »Was wollte Chief Inspector Bates von mir wissen – so genau weiß ich das eigentlich gar nicht. Merkwürdig, nicht wahr?« Er nahm einen Schluck und schien den Whisky zu kauen, bevor er fortfuhr: »Wir haben die meiste Zeit über Keith geredet. Ich erzählte ihm über sein Leben, seine Arbeit und über unsere Beziehung. Ich schmeichle mir, dass er mit einem genauen Bild des Toten davon geschritten ist. Wie ihm das allerdings weiterhelfen soll, fehlt mir die Phantasie.« Ein überraschendes Aufleuchten flog über sein Gesicht: »Vielleicht wissen Sie es – Sie sind doch Schriftstellerin!«

       Ein Lachen erklang als Antwort, doch nur leise und kurz, schließlich war die Situation ernst. »Lieber Professor, in Polizeiarbeit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich finde es allerdings plausibel, dass dieser Bates sich ein möglichst genaues Bild von seinem Opfer verschafft, bevor er nach dem Mörder sucht. Schließlich liegt die Ursache für den Mord im Leben. Stellen Sie sich vor, Bates lässt sich von jedem der Gäste Keiths Leben erzählen, soweit der Betreffende das kann – am Ende tauchen Widersprüche auf, mit denen die Polizei weiterkommt… könnte sein. Meinen Sie nicht?«

      ⋆

      Amanda steuerte ihren Wagen durch die Dunkelheit Richtung Süden. Nicht mehr lange und der Widerschein der Lichter von London würde die Farbe des Nachthimmels verändern. Olivia saß still neben ihr und schaute in die dunkle Weite. »Bist du jetzt klüger als auf der Herfahrt?« wollte sie wissen.

       »Nicht wesentlich, fürchte ich. Und du?«

       »Ich schon, vergiss nicht, ich kannte die Protagonisten des heutigen Tages ausschließlich vom Neujahrsabend. Ich hatte übrigens den Eindruck, dass Mrs Beeverell die Reaktion ihres Mannes auf Aultons Tod doch etwas zu sehr vereinfacht. Er trauert ehrlich um ihn.«

       »Ich denke auch. Am Ende schützt er seine Trauer vor seiner Frau und regt sich deshalb um so lauter über seine zerstobenen Zukunftspläne auf. Ein probates Mittel.«

       »Wenn an deinen Gerüchten was Wahres ist, kann ich ein wenig verstehen, dass sie Keith nicht wirklich mochte.«

       »Sie stehen einander darin nicht viel nach: Er mochte sie auch nicht. Sie war ihm zu herrisch und laut. Und sie bedeutete eine manifeste Veränderung in seiner Beziehung zu Beeverell, die zu dem Zeitpunkt, als sie in Beeverells Leben eindrang, eine friedlich diskutierende Männerfreundschaft war. Unser Professor hat ja tatsächlich spät geheiratet, er war über seinen vierzigsten Geburtstag das eine oder andere Jahr hinaus. Somit stand dieser vergleichsweise jugendliche Wirbel mit seinem unverstellten Herrschaftsanspruch über seinen Freund für Keith etwas unerwartet zwischen ihnen. Deshalb verlegte er sich sehr bald nach Beeverells Heirat aufs Telefonieren und fuhr immer seltener nach Cambridge.«

       »Pech! Mit den alten Freunden ihres Mannes klappte es eben nicht. Sie schätzt Bruce Trelaney ebenfalls nicht besonders, stellten wir fest. Hast du eine Ahnung, warum sie ihn nicht mag?«

       »Sie findet diesen sensiblen, vielleicht auch weichlichen Menschen enervierend, es kann gar nicht anders sein. Du musst dir vorstellen, alles, was er sagt, kommt wohl überlegt und entsprechend langsam. Jede alltägliche Situation wandelt sich zu einem komplizierten Vorgang, sobald er den Mund aufmacht; selbst wenn er bei Tisch um die Butter bittet. Das kann einen schon verrückt machen.«

       »Und sie fackelt nicht lange, sondern vertreibt diese Menschen entschlossen aus ihrem Lebensraum.«

       »Ja genau – so spart man Zeit und Arbeit! Die Ausgestoßenen, die sich ihrer Beziehung zu Beeverell sicher sind, wechseln ins Pub und haben ihre Ruhe. Ein unsicherer und empfindlicher Mensch wie Bruce zieht sich bis nach Brighton zurück.«

       »Stellt sich die Frage, warum Aulton ihn dann auf seinem Fest genau zwischen diese beiden Ehepartner platzierte, er hätte ihn wenigstens an Beeverells andere Seiten setzen und durch dessen physischen Umfang vor der Ehefrau schützen können.«

       »Vielleicht hätte er dann zu weit oben am Tisch gesessen… vielleicht, um den schüchternen Menschen mit zwei bekannten Gesichtern zu umgeben…«

       »Kannte er denn wirklich sonst niemanden?«

       »Mich, wenn auch weit weniger gut als Henfrey Beeverell. Bruce hätte den Platz von Neville Seymour an unserem Tisch einnehmen können… nein, das hätte nicht gepasst und Bruce sicherlich auch nicht behagt… ich weiß nicht, ob es für ihn überhaupt eine Lösung gegeben hätte…«

       »Meine wäre immerhin besser gewesen als die von Aulton! Wie überhaupt sah die Beziehung zwischen diesen beiden Männern aus?«

       »Ach du lieber Himmel, ein ganz neues Thema. Siehst du da vorn die Lichter von London?«

       »Seh’ ich, aber du kennst sie gut genug, um dich auf meine Frage konzentrieren zu können.«

       Das Auto hielt an der ersten roten Ampel seit Cambridge und Amanda sah die Freundin an: »Du verschwendest wirklich keine Zeit, aber das hast du noch nie getan.« Die Ampel schaltete um und Amanda fuhr geruhsam weiter. »Bruce verband ein locker gehaltenes, aber rissfestes Band mit Keith und Muriel gleichermaßen. Seit Kamante sich als Reiseschriftsteller einen Namen zu machen begann, versuchte Bruce, auch ihn für sich zu gewinnen. Wie weit dieser Versuch auf Gegenliebe stieß, weiß ich nicht. Englische Reiseliteratur jedenfalls ist sein Forschungsschwerpunkt. Bruce wurde mit den Jahren immer schwieriger im Umgang und Keith fand die Gespräche immer mühsamer, so dass vor allem Muriel die alte Freundschaft pflegte.«

       »Hmm… wie alt?«

       Amanda bremste vor der nächsten roten Ampel: »Bruce kam nach Cambridge, als Keith schon als Lektor an der Universität von Nairobi arbeitete. Nach seiner Rückkehr traf er auf ihn durch Beeverell; für Muriel gehört er zu den ersten Menschen, die sie hier in England kennenlernte. Das ist jetzt über dreißig Jahre her.«

       »Das ist wirklich eine alte Freundschaft. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade erst geboren.«

       Ruhig rollte der Wagen die Camden Road hinunter. »Ich glaube, dich gab es noch nicht und mich gerade, als schreiende Wirklichkeit in Windeln.« Einem spontanen Entschluss folgend lenkte Amanda in die auftauchende Esso-Tankstelle und stieg aus. »Für alle Fälle gerüstet! Sicher sind Streifenwagen immer vollgetankt,« erklärte sie der Freundin durch das offene Wagenfenster.

       Als sie vom Zahlen zurückkehrte, wechselte sie das Thema: »Olivia, gerade kam mir in den Sinn, dass wir noch keine Pläne für morgen haben!«

       »Du wolltest dich um Weinreb kümmern, erinnerst du dich?«

       »Und du?«

       »Ich werde mich hinter meinen Schreibtisch hocken und für meinen Lebensunterhalt schreiben.«

       »Und du meinst, das ist notwendig?«

       »Da ich kein Elfengeschöpf bin, dem der Nektar aus den Azaleen auf der Fensterbank zum Leben reicht, ja.«

       Amanda schwieg vorübergehend und Olivia stellte bei sich fest, wie hässlich London unter den Gleisen von Camden Town war. Aber beides ging schnell vorüber.

       »Olivia, vielleicht reicht es ausnahmsweise, wenn du dich nur bis Mittag an deinen Schreibtisch hältst. Nach dem Lunch könntest du in die London Library wechseln, dort arbeitest du doch auch sonst immer wieder.«

       »Und was gewinnen wir damit?«

       »Das Britische Museum liegt damit ungefähr auf halbem Weg zwischen deinem Standort und den neuen Räumen der British Library. Dort warte ich auf Weinreb und sage dir Bescheid, wenn er aufbricht. Dann machst du dich wie er auf den Weg – stell dir das mal aus der Vogelperspektive vor: Du