Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


Скачать книгу

im Wohnzimmer auf und ab, gestern, vorgestern, ich konnte ihn nicht zum Sitzen überreden.«

       »Demnach hatten die beiden Männer gemeinsame Pläne?«

       »Das wohl nicht. Henfrey wirkte als wissenschaftlicher Beirat für Keith, er sah sich eng verbunden mit dessen künstlerischem Schaffen. Das alles ist mit einem Schlag vorbei. Ich denke, es ist an dieser Stelle eine große Leere entstanden, die sich erst im Laufe der Zeit mit Neuem füllen wird. So etwas braucht Zeit.«

       Lady Cranfield wirkte sehr mitfühlend: »Freunde können einem dabei helfen, mir ergeht es jedenfalls so,« bekannte sie. »Ihr Mann ist doch mit Bruce Trelaney ebenfalls seit Studientagen verbunden…«

       »Das war früher so. Seit Bruce an der Universität in Brighton lehrt, hören wir nicht mehr viel von ihm.« Mrs Beeverells Ton wurde etwas schärfer.

       »Und der junge Ingram?«

       »Der scheint völlig am Boden zerstört zu sein. Gestern Abend rief er hier an, die Polizei hatte mit ihm geredet, mein Mann sprach lange mit ihm. Heute oder morgen will er nach Cambridge kommen.« Der scharfe Ton verfestigte sich.

       »Alle Welt scheint nach Cambridge zu kommen…« Lady Cranfield erhob sich – dieses Mal mit einem verwunderten Lächeln. »Eigentlich sollte man erwarten, dass die Freunde eher nach Dulwich fahren, um Muriel beizustehen…«

       »Der Witwe beizustehen ist doch eher Sache der Verwandten, finden Sie nicht?« Mrs Beeverell hatte sich gleichfalls erhoben. »Außerdem hat sie Kinder!«

       »Richtig.« Lady Cranfield schritt hinaus in die Diele. Olivia war vorausgegangen und wartete neben der Haustür, als Amanda noch einmal innehielt: »Leider sehe ich Henfrey jetzt gar nicht…«

       Der Aufbruch verwandelte Mrs Beeverell zurück in eine höfliche Gastgeberin: »Lassen Sie mich nachdenken – ich glaube, er hat heute Nachmittag sein vierzehntägiges Treffen mit einem Kollegen aus dem Trinity. Seit die zwei ihre Besprechung in den ›Dying Dragon‹ verlegt haben, dauert sie doppelt so lange wie früher. Sie werden ihn heute wirklich nicht mehr treffen können. Vielleicht ist es möglich, dass Sie sich telefonisch mit ihm beraten, ich werde ihm jedenfalls ausrichten, dass Sie hier waren.«

       Ein warmer Dank für den Tee, einige höfliche Abschiedsfloskeln und die Haustür schloss sich hinter den Eindringlingen.

      ⋆

      »So lästig ist dein Besuch noch selten jemandem gewesen, oder?« wollte Olivia wissen, als sie erneut aufs Zentrum zufuhren.

       »Jedenfalls war man wohlerzogen genug, wenigstens den Versuch zu unternehmen, es mich nicht merken zu lassen. Wir werden uns jetzt mit einem ›echt englischen‹ Frühstück davon erholen. Bisher hat meine Zeit nur für einen schwarzen Kaffee und eine Scheibe Toast gereicht.«

       »Und einen großen Becher Tee mit Milch und viel Zucker – sei nicht so undankbar.«

       »Undankbar würde ich, wenn ich meine Meinung dazu äußern würde.« Beim dritten Mal parkte Amanda offiziell hinter der Hauptpost, zahlte und führte Olivia von dort zielstrebig nach Norden in die engen Gassen; die letzte war so schmal, dass sie die roten Ziegelsteinwände mit ausgestreckten Armen rechts und links gleichzeitig berühren konnte. Sie endete in einem winzigen Hof und ein ebenfalls winziger Gastraum umfing sie gleich darauf mit seiner Wärme.

       »Darf ich dich zu einem englischen Frühstück mit Eiern, Speck und heißen Tomaten einladen? Schließlich haben wir schon fast einen halben Arbeitstag hinter uns.« Amanda befreite sich von ihrem Schal.

       Sie machten es sich an einem dunklen, polierten Eichentisch im Winkel gemütlich und dankbar sah Olivia zu, wie die Wirtin aus einer großen Kanne heißen Kaffee und aus einer kleineren heiße Milch in zwei Tassen von französischen Ausmaßen goss. Zufrieden schloss sie ihre Hände um das warme Tongeschirr und sah ihr Gegenüber abwartend an.

       »Mrs Beeverell scheint tatsächlich eine jener durchgreifenden Ehefrauen zu sein, in deren Umgebung kein Grashalm hochkommt. Vielleicht stimmt das Gerücht einfach, dass sie die Freundschaft zwischen ihrem Mann und Bruce Trelaney so beharrlich störte, dass Bruce sich schließlich zurückzog. Unser heutiges Erlebnis schreit auch nicht gerade nach Wiederholung,« ein Schimmer von Belustigung huschte über Amandas Gesicht.

       »Und Beeverell lässt sich das bieten?«

       »Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Er weicht dem Konflikt aus und verlegt seine persönlichen Kontakte ins College und ins Pub. Warum nicht?«

       Olivia nickte, sie war schon bei der nächsten Frage: »Wenn ich diese Ehefrau richtig verstehe, bedauert unser Professor Aultons Tod vor allem um der gemeinsamen Zukunftsaussichten. Waren sie doch keine Freunde?«

       Amanda sah durch ein Sprossenfenster in das kleine Geviert hinaus. Die Ziegelsteinwände leuchteten in der feuchten Winterluft aufmunternd rot. Davon abgesehen war es vollkommen still in diesem zurückgezogenen Winkel. Auch die Wirtin war verschwunden, nachdem sie das heiße Frühstück gebracht und Kaffee nachgeschenkt hatte. »Die Frage hat zwei Aspekte,« begann Amanda nachdenklich, »Beeve-rell ist tief im Innern ein ängstlicher und sehr einsamer Mensch. Er hat sich ein hohes Maß an Rationalität erworben, mit dem er sein Übergewicht über seine Umgebung zu sichern sucht – als Reaktion auf seine Ängste. Das Sich-Einlassen aufeinander, bei dem dann Fragen auftauchen wie die, was den anderen oder einen selbst bewegt, worüber man sich freut oder ärgert oder gar ängstigt, gehört zu einem ziemlich großen Bereich von Realität, den er aus seiner Welt ausschloss – vor sehr langer Zeit vermutlich schon,« fasste sie alte Beobachtungen zusammen. »Was die anderen bewegt, weiß er nicht, nur wie sie funktionieren. Natürlich gibt es Überschneidungen: Um zu erkennen, wie jemand funktioniert, bekommt man gelegentlich auch Gefühle des anderen mit in den Blick. Beeverell mag das nicht und hält es für taktvoll, darüber hinwegzusehen. Wie viele Facetten der Menschen um ihn herum er nicht mehr wahrnimmt, entgeht ihm. Und niemand sagt es ihm, auch Keith tat es nicht.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Seine physische Größe und seine tragende Stimme bringen allein schon eine gewisse Eindrücklichkeit mit sich, auf die seine Gesprächspartner reagieren; seine Intelligenz und seine Rationalität haben ihm eine anerkannte Position in der geisteswissenschaftlichen Welt verschafft. All das zusammen sichert ihm in seiner Umgebung das weite Spektrum von höflichem bis devotem Verhalten – und alles ist in Ordnung.«

       »Du lieber Himmel!«

       »Das klingt furchtbar und für seine Familie dürfte es das auch gelegentlich sein. Darüber weiß ich nichts, man sollte es aber mitdenken, wenn man über seine bessere Hälfte den Kopf schüttelt. Abgesehen davon ist er auf einer relativ äußerlichen Ebene ein umgänglicher und ziemlich netter Mensch. Auf Empfängen, Parties und ähnlichen halbwegs offiziellen Situationen herrscht in seiner Umgebung niemals Schweigen und wird es nie langweilig. Diese Beliebtheit trägt sich wie ein Schutzpanzer gegen Einsamkeit, könnte ich mir denken.« Über der großen Kaffeetasse wanderte ihr Blick hinaus zu der feuchten roten Mauer, aber nur kurz. »Keith besetzte einen klar umrissenen Raum im Leben dieses Professors, in dem dessen Eitelkeit und Ängste gleichermaßen balsamische Linderung erfuhren dadurch, dass er von seinem berühmten Freund gebraucht wurde, und dadurch, dass von dessen Ruhm ein wenig ihm gebührte. So sieht er das jedenfalls. Keith war’s zufrieden und nutzte Beeverell im Gegenzug schamlos aus. Er wusste genau, wie man diese Mischung aus Eitelkeit und Ängstlichkeit bedienen muss, schließlich besaß er die Scharfsichtigkeit des Künstlers, eine ebenbürtige Eitelkeit und das unersättliche Bedürfnis nach Menschen und ihrer Anerkennung – doch von all dem abgesehen mochte Beeverell ihn auf seine eingeschränkte Art. Darin bin ich mir sicher.«

       »Inwieweit Aulton ihn mochte, lassen wir offen? …Jedenfalls besaß er die Fähigkeit, sein Gegenüber sehr genau zu durchschauen, nutzte diese Kenntnis aber eher zu seinem Vorteil als zu dem des anderen. Richtig?«

       »Leider, ja. Er ist eine ganze Generation älter als ich, entsprechend spät lernten wir uns kennen. Ob seine alten Freunde Erinnerungen an einen einfühlsameren, auch an ihnen interessierten Mann oder Freund haben, müsste man sie bei Gelegenheit fragen. Ich will es gar nicht ausschließen.« Amanda schwieg.

       Olivia leerte die große Tasse