Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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die Elemente ausmustern, die zu dieser speziellen Geschichte nicht gehören, man könnte auch sagen, wir werden alles Überflüssige streichen. Schließlich verdichten sich die zurückbleibenden Teile zu einer guten Handlung und erzählen uns, wie es zu dem Mord kam und gleichzeitig damit, wer es getan hat.«

       »Du setzt voraus, dass die Beteiligten ihr Handeln vor deinen Augen ausbreiten, als wären sie fiktive Figuren aus einem deiner Romane. Hältst du das für wahrscheinlich?«

       »Nein – möglicherweise gibt es doch einige kleine Unterschiede zwischen Leben und Fiktion…«

      ⋆

       »Hier, bitte, alter Baumbär, einige Schluck Rotwein werden deine Lebensgeister wieder mobilisieren!« Olivia reichte Richard, der ins Leere starrte, ein Glas und setzte sich mit dem eigenen ihm gegenüber. Sie trank einen kleinen Schluck und wartete. Es war ihr ein vertrauter Vorgang, dass Richard nach einem anstrengenden Arbeitstag und einem Familienabendessen, bei dem er alles vom Tag seiner Familie erfahren wollte – von nicht weniger als fünf Menschen und einem Hund – gedankenverloren und schweigsam vor ihrem Kamin ausruhte. Sie dachte derweil an Amanda, die mit leichter Hand das Leben zu Geschichten umformte und sich auf die-se Weise in Sicherheit hielt. Auch sie selbst hatte nach dem gestrigen Schreck einen gelassenen Standpunkt bezogen, doch eine stille Betroffenheit war zurückgeblieben und der Wunsch, zu verstehen, was geschehen war.

       Richard raffte sich auf und stellte sein halbgeleertes Glas beiseite. Er setzte sich etwas aufrechter: »Also – Mord.«

       »Warum nicht Selbstmord?«

       »Weil alle Familienmitglieder, die ich heute sprach, Selbstmord ausschließen. Seine Frau und seine Schwester, sein Bruder mit Frau und Sohn in Kent; sein Schwager, der Staatssekretär, dessen Frau, ihre zwei Töchter und der Ehemann der jüngeren, ich traf sie alle vereint in Clapham an. Das Entsetzen hat die jeweiligen Kleinfamilien einen Tag länger zusammengehalten. Alle wirken wie paralysiert. Vielleicht ist das der Grund, warum trotz aller sichtbaren Betroffenheit niemand zu Sir Keiths Witwe nach Dulwich fuhr außer der Tochter Wangari; sie traf aber erst ein, als ich schon lange weg war.«

       »Und Mrs Robin?«

       »Auch sie schließt Selbstmord aus. Sie bleibt wohl noch ein paar Tage in Dulwich, ebenso Mrs Dodwell. Das ist gut so, denke ich, weil Mrs Aulton unter tiefem Schock steht.«

       »Wie äußert sich das?«

       »Mit der unbewegten Miene einer Mamorstatue verhielt sie sich formvollendet, beantwortete alle Fragen präzise und knapp, manchmal zu knapp, war nie ungeduldig, wenn ich nachfasste und schaute mich dabei mit einem rätselhaft ratlosen Blick an. Ich wusste nie, ob sie mich sah oder ins Leere schaute. Ich kann in ihrem Fall nicht sagen, mit wem ich es eigentlich zu tun habe.«

       »Nun, mit einem kultivierten und sehr disziplinierten Menschen. Das ist für den Anfang schon sehr viel – ihre Art zu schauen scheint häufiger irritierend zu sein. Am Neujahrsabend hat sie die Gäste, die zur Begrüßung auf sie zukamen, wohl angesehen, aber wiederholt überhaupt nicht auf sie reagiert, ungefähr so als hätte sie sie nie zuvor gesehen und sei vollkommen uninteressiert an ihrem Er-scheinen. Dabei kannte sie alle gut, das weiß ich von Amanda.«

       »Unverständlich, wenn man bedenkt, mit welch berechtigtem Stolz sie als Gastgeberin hätte dastehen können. Legen wir sie im Moment auf Eis, ich werde noch manches Mal mit ihr sprechen und dabei meine Erfahrungen machen – ein paar Fakten: Von den acht-unddreißig Gästen gehörten vierzehn zur Familie des Toten. Mit zehn von ihnen habe ich heute gesprochen, alle schließen Selbstmord aus, dazu kommt mit Mrs Robin eine weitere Person.«

       »Und du glaubst Ihnen?«

       »Ich habe keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen. Der notwendige Schluss: Wir suchen einen Mörder. Da Sir Keith dem Dessert einen Whisky vorzog und dieses Glas auch beim überraschend früh einsetzenden Abgang seiner Gäste noch in der Hand hielt, kommt jeder für die Tat in Frage, es sei denn, dir fällt jemand ein, der so unhöflich war, ohne Händedruck zu verschwinden?«

       »Unhöflichkeit als Alibi…« Olivia versuchte sich zu erinnern, stellte aber fest, dass sie auf die Verabschiedungszeremonien nur fallweise geachtet hatte. In diesem Punkt konnte sie niemanden entlasten und Richard behielt seine achtunddreißig Kandidaten. Genau-genommen einen weniger, denn sie selbst schloss er aus, ohne darüber zu reden. »Übrigens bedeutet ein schweigender Abgang nicht zwingend ein Alibi. Viele standen und gingen eine kleine Weile herum und redeten auch mit Sir Keith, wobei sie genug Gelegenheit hatten, ihr Gift loszuwerden, wenn sie das wollten.«

       »Es wollte nur einer, und die anderen lenkten ahnungslos von ihm ab… Zu einem anderen Punkt: Die Chemiker sind ziemlich sicher, dass die Glykoseverbindung im Whisky keine in unserer Pharmaindustrie übliche Molekülverbindung aufweist, sondern die eines afrikanischen Pfeilgiftes. Der zugehörige Strauch wächst in Ostafrika, verwandte Pflanzen von Eritrea bis ins südliche Mozambique. Unseren Leuten erscheint die ostafrikanische Pflanze am wahrscheinlichsten zu sein. Ich werde mich dafür interessieren, wer in den letzten Jahren dort war und was er dort gemacht hat.« Richard fing Olivias skeptischen Blick ein: »Ich weiß, zu Giftkapseln kann man am Strand ebenso gut kommen wie am Rande einer Konferenz – trotzdem.« Mit diesem strategischen Punkt für den kommenden Tag gab Richard sich zu dieser späten Stunde zufrieden. Er leerte sein Glas langsam und plauderte noch genüsslich und harmlos über familiäre Vorkommnisse, bevor er aufbrach und zwei Straßenecken weiter in sein warmes Bett verschwand.

      ⋆

      Olivia drückte die Haustür hinter ihm leise ins Schloss und ein paar Schritte später die Wohnzimmertür. In der freien Fläche des Raumes blieb sie stehen und, in Gedanken bei dem Gespräch mit Richard, ließ sie ihre Arme kreisen, immer schneller, bis sie das Blut in den Fingerspitzen spürte. Zufrieden ließ sie die Arme seitlich herunter-hängen, stellte die Füße genau nebeneinander, drückte die Knie durch und ließ den Körper in der Taille abknicken und nach vorn fallen. Ihre Fingerspitzen lagen auf dem Boden. So entspannt stehend fand Leonard sie vor.

       »Scheint, du bist noch munter genug für einen kurzen Bericht!? Was hat Richard bis jetzt herausgefunden?«

       »Es ist tatsächlich Mord, aber das weißt du ja schon.« Sie richtete sich auf, ließ kurz ihre Schultern kreisen, schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen und kehrte auf ihren Platz vor dem Kamin zurück. Ihr Bericht fiel denkbar kurz aus.

       Leonard sah sie nachdenklich an: »Selbstmord darf man demnach so lange ausschließen, bis eine lebensbedrohliche Krankheit oder erdrückende Schulden als Motiv auftauchen. Für Mord ist es eine dramatische Gelegenheit; fast neige ich dazu, meinerseits auch die Familie auszuschließen. Jeder von ihnen hätte einen so viel dezenteren und damit sichereren Zeitpunkt wählen können.«

       »Ja, wahrscheinlich. Jedenfalls haben wir es mit einer geplanten Handlung zu tun. Das Gift musste beschafft und gezielt zu dieser Gelegenheit mitgenommen werden. Richard hofft, den Täterkreis auf diejenigen einschränken zu können, die in den letzten paar Jahren in Ost- oder Südafrika waren.«

       »Warum das denn?«

       »Weil die Molekülverbindung des Strophanthins die Chemiker von Scotland Yard auf ostafrikanisches Pfeilgift schließen lässt.«

       Leonard war erstaunt: »Und er glaubt allen Ernstes, dass das in London nicht zu finden ist?«

       »Es schien mir zumindest so, ja.«

       Nach kurzer Pause gab Leonard sich einen Ruck: »Vielleicht kann ich den Herren von Scotland Yard eine Überraschung bereiten. Ich wollte immer schon mal ausprobieren, ob meine Informationen stimmen. Kommst du morgen mit?«

      Kapitel 4

      In der kahlen Allee raschelten die letzten trockengefrorenen Blätter unter den Schritten und draußen auf den weiten leeren Rasenflächen grasten einige kanadische Gänse. Gelegentlich ging ein Hundebesitzer in Erfüllung seiner Pflicht vorbei, darüber hinaus war es leer im Regent’s Park an diesem bleichen Januarmittag.

       Der tote Schriftsteller-Freund hielt Amandas Gedanken fest. Sie ging neben Olivia