Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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im Raum für italienische Malerei, befand sich der fünfte Tisch, der schon allein durch seine ausladende Form die Führung übernahm, er hatte die Form einer getrockneten Bohne und die seitlichen Mauervorsprünge wirkten wie ein Rahmen. An ihm in der Mitte saß der Jubilar, ihm gegenüber niemand, so dass er alle seine Gäste im Blick hatte, natürlich einen Teil von ihnen mit deren Rücken, aber ich bin sicher, er wusste, um welchen Rücken es sich jeweils handelte. Gut – links neben ihm, warum eigentlich links?, jedenfalls saß dort seine Frau und daneben, bereits in der sanften Kurve, die der Tisch beschrieb, Muriel Aultons Bruder und dessen Frau. Er ist Staatssekretär im Entwicklungsministerium und sie Juristin. Auf der anderen Seite von Sir Keith, also rechts herum, saßen seine Schwester, ich denke, es ist dieselbe Dame, die bei ihm zuhause übernachtet hat, gefolgt von einem Bruder der beiden und dessen Frau.«

       »Macht sieben Personen, das heißt: Alles in allem müssen wir unseren Kandidaten unter achtunddreißig Menschen suchen.«

       »Erinnere dich einmal kurz an das Märchen von Dorn-röschen.«

       »Auf der Stelle?«

       »Es könnte nützlich sein, weißt du, darin gibt es eine dreizehnte Fee…«

       Er sah sie einen Moment nachdenklich an: »Du meinst, der Täter könnte auch von außen oder überhaupt erst auf dem Heimweg oder in der Nacht in die Geschichte gekommen sein?«

       »Genau, vielleicht war er nicht eingeladen, ausschließen kann man das nicht, oder?«

       »Nein, kann man nicht, aber achtunddreißig Möglichkeiten reichen mir im Moment völlig aus. Wenn der Weg aus diesem Kreis hinausführt, werde ich es hoffentlich merken – sichern wir erst einmal die, die wir haben. Wer saß an dem Tisch hier im Anschluss an das Staatssekretärsehepaar – weißt du eigentlich ihren Namen?«

       »Nein, bedauerlicherweise vergessen – an dem Tisch saß der Verleger, Mr Byatt. Gegen den Uhrzeigersinn folgten dessen Frau, ein Professor Beeverell, Literaturwissenschaftler, ich glaube unter anderem ein Byron-Spezialist, ein weiterer Hochschullehrer, Bruce Tre-laney und Mrs Beeverell. Neben ihr saß der Herausgeber der Gesamtausgabe der Werke von Keith Aulton, seinen Namen habe ich ebenfalls vergessen, die Ausgabe ist aber auch erst in Planung – nein stopp: Zwei Bände sind schon erschienen; daneben saß der Feuilletonchef des ›Guardian‹ und dessen Frau, die Mr Byatt an ihrer Rechten sitzen hatte.«

       »Wieder ein Kreis geschlossen. Das macht sich richtig! Wer saß am unteren rechten Tisch?«

       »Die nachfolgende Generation: die Tochter Wangari, sie lernte ich flüchtig kennen, weil ich sie im Auto mitnahm, als ich Amanda nach Hause brachte. Sie wohnt in St. John’s Wood und scheint recht nett zu sein. Neben ihr saß Bruder Kamante mit Frau, die anderen waren Nichten und Neffen, teilweise mit Partner. Kinder respektive Enkelkinder waren keine dabei. Ist das normal? Weiß ich nicht. Und ein älterer Mann mit weißen Haaren, ich sah immer nur seinen Rücken. Bleibt noch der Tisch zwischen dem gerade erwähnten und unserem: Die Gäste kannte auch Amanda nicht bis auf den Leiter der Dulwich Gallery mit seiner Frau und Anthony Weinreb, also fünf XYs.«

       »Die werden wir auch noch identifizieren, du weißt erfreulich viel. Kannst du zu diesem Weinreb Näheres sagen?«

       Olivia lachte leise. Über den lebendigen Menschen vergaß sie einen Moment die bedrückende Realität: »Auch er hat in meinem Bücherschrank einen allerdings bisher noch schmalen Platz inne, nicht zuletzt deswegen kann ich dir ein wenig zu ihm sagen. Er arbeitete als hochrangiger Bibliothekar im Britischen Museum und beschäftigte sich in seiner Freizeit mit den großen Erzählern des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ich kenne ein wirklich spannendes Buch über George Eliot, aber es gibt mehr. Vor vielleicht zehn Jahren erschien dann sein erster großer Roman, auch hier gibt es inzwischen drei oder vier, die sich jeweils mit Ausschnitten der englischen Wirklichkeit um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen und in der Presse zunehmende Aufmerksamkeit gewinnen. Ich habe nie geschafft, einen zu lesen. Das sollte ich nun nachholen, wenn ich an sein kluges offenes Gesicht denke. Aber das gehört nicht hierher.«

       Richard nickte: »Wie ist der Abend verlaufen, war irgendetwas ungewöhnlich?«

       »Schwer zu sagen. Unterhalte dich darüber besser mit Amanda, sie hat Erfahrung mit großen gesellschaftlichen Festen, ich nicht.«

       »Mach ich noch, keine Sorge, aber heute möchte ich mich mit dir unterhalten.«

       Olivia stand auf und sah eine kleine Weile in ihren Garten hinaus, die Katze ihrer Nachbarn lag auf der Mauer und sonnte sich, sie war ingwerfarben. »Richard, ich kann dir erzählen, worüber ich mich gewundert habe, ich tue es in diesem Zusammenhang nicht gern, weil ich niemandem schaden will, nur weil er sich in meinen Augen überraschend verhalten hat. Mit Amanda über die Gäste zu klatschen, wäre vergnüglich, der Polizei gegenüber wiegt so eine leichte Äußerung Tonnen.«

       »Mir scheint, du nimmst die Situation gar zu ernst, auch wir zwei unterhalten uns letztendlich als Freunde. Als Polizist würde ich heute nichts unternehmen, als dein Freund habe ich Gelegenheit zu einem ersten Eindruck, nichts wird mitgeschrieben und du musst nichts beeiden.«

       Die Tür ging auf. »Guten Tag, Richard. Ich fühle mich gerade zu faul für meinen Schreibtisch, darf ich mich zu euch setzen? Übrigens: alle guten Wünsche zum Neuen Jahr dir und deiner Familie!« Leonard, seine schmalen ein-Meter-neunzig wie üblich in einen irischen Fischerpullover und eine alte Cordhose verpackt, setzte sich Richard gegenüber vors Feuer und sah zu Olivia hinüber: »Was ist passiert? Vor zwei Stunden im wilden Park von Richmond warst du sehr vergnügt. Woher jetzt die Tragik in deinem Gesicht?«

       Leonards Ungezwungenheit entspannte sie auf der Stelle. Sie atmete tief durch und Ansätze zu einem Lächeln spielten um ihre Augen. »Mein Widerstreben ist wirklich Humbug! Denk dir, Leonard, Keith Aulton ist tot, möglicherweise wurde er ermordet, deswegen ist Richard hier. Ich war so schockiert, dass ich um die gestrige Abendversammlung in Dulwich Gallery schon die Schatten von Old Bailey drohend anwachsen sah. Ein Glück, dass du heruntergekommen bist. Jetzt ist die Blase geplatzt.« Aufatmend ließ sie sich neben Leonard auf das Sofa fallen und streckte die Beine übereinandergeschlagen dem Feuer entgegen. Sie sah ihn noch einmal erleichtert an: »Magst du dableiben, auch wenn wir über den gestrigen Abend reden und du auf unserem Spaziergang das meiste davon schon gehört haben wirst?«

       »Sicher, schon um weiter Entspannung zu verbreiten.« Aufgeräumt schaute er von einem zum anderen: »Über Mord zu knobeln, wird vor diesem Kamin zu einer wiederkehrenden Unterhaltung. Wo seid ihr stehengeblieben?«

       »Wir wissen noch nicht sicher, ob es Mord war,« stellte Richard die Situation klar und fing einen dankbaren Blick von Olivia auf, »es spricht lediglich ein erster ärztlicher Eindruck dafür. Ich will hier und jetzt verhindern, dass Olivia den Abend zu den Akten legt und irgendetwas dem Vergessen überliefert, das ich noch brauchen könnte, möglicherweise,« fügte er in ihre Richtung an. »Also zurück nach Dulwich!«

       »Wenn du Leonard erläuterst, was du von mir willst, klingt es viel leichtfüßiger,« stellte Olivia fest. »das ist merkwürdig,«

       »Das Reden überwindet allmählich den aktuellen Schock. Bei dir sollte es relativ schnell gehen, weil du ja nicht allzu persönlich betroffen bist. Die normale menschliche Reaktion – weißt du,« teilte Richard aus seiner Berufserfahrung mit.

       »So wird es wohl sein: herzlos, aber angenehm – lass mich einfach von vorn anfangen, ja? Der erste Teil der Veranstaltung gestaltete sich unkompliziert und ein wenig aufregend, wenn auch nur für mich. Ich lernte Menschen kennen, die lediglich Namen gewesen waren, darunter Schriftsteller, deren Werke einfach großartig sind. Unter Amandas Führung schlenderten wir von Gruppe zu Gruppe, ich schüttelte Hände und lauschte dem Small Talk, ich selbst schwieg meistens. Wenn ich jetzt zurückschaue, sehe ich die Gäste herumgehen oder -stehen, redend oder auch nicht. Die meisten mit einem Glas Sekt in der Hand. Soweit alles normal. Die Lockerheit verlor sich, als jeder sich zu seiner Platzkarte an einen der Tische aufräumte. Ich glaube, dass nicht alle glücklich miteinander waren und der weitere Abend korrigierte diesen Eindruck auch nicht. An unserem Tisch entspann sich dank Mrs Farrell und Amanda schnell eine leichte Unterhaltung. Sie wurde von den unvermeidlichen offiziellen Reden unterbrochen, denen jeweils ein Menü-Gang