Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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›Sir Keith‹. Vielleicht wurden wir gestern Zeugen einer momentanen Ohnmacht gegenüber diesem Widerspruch.«

       »Kann sein. Es scheint so traurig. Du weißt, wie enorm seine großen Romane sind, gut sind alle. Ich bin seinen Figuren immer sehr gespannt durch die Handlung gefolgt… aber das kennst du ja alles. Was ich sagen will, ist: Er hat sich sein ganzes Werk hindurch mit menschlichen und mitmenschlichen Verhaltensweisen auseinandergesetzt. Sollte ihm wirklich kein Mittel zur Verfügung gestanden haben, dieser Schwierigkeit angemessen zu begegnen?«

       »Du meinst, wenn er gewollt hätte?«

       »Ich fürchte, ich meine etwas in der Art. Außerdem kann er den erblich-ewigen Adel, wie du so schön sagst, vom Standpunkt des erworbenen Adels doch völlig ungefährdet weiterverspotten. Man könnte annehmen, er sei dafür jetzt sogar in einer viel besseren und entspannteren Position.«

       »Irgendetwas nimmst du im Moment nicht ganz ernst…«

       »Das Vergnügen, sich am Adel die Zunge zu wetzen, ist unter den Intellektuellen derart verbreitet, dass es letztendlich für fast nichts eine ernsthafte Begründung abgibt.«

       »In zwei Stunden wird Keith hierherkommen, wir wollen versuchen, aus Plänen für eine Reihe von Anthologien ein Konzept zu machen…«

       »Gute Vorsätze zum Neuen Jahr!«

       »Du solltest die Dinge nicht immer so scharf beim Namen nennen – aber es stimmt. Ich werde ihn einfach fragen, was er sich gestern Abend dabei gedacht hat, uns so eine Rede zuzumuten. Natürlich hat er auch kein einziges Wort des Dankes für seine Frau gefunden. Das ist der Gipfel dieser Eitelkeitsparade.«

       »Und vermutlich durch Eitelkeit zu erklären. Vielleicht lässt sich am Verschweigen ihre Bedeutung abmessen: ohne Muriel kein Dichter Keith Aulton. Dem alter ego schuldet man keinen Dank, es ist die bessere Hälfte von allem. Ach, Amanda, mich beginnt schon wieder zu frösteln.«

       Ein kräftiger Schlag des Türklopfers hallte durchs Haus, Olivia fuhr richtig zusammen. Während sie sich kurz bei Amanda entschuldigte und den Hörer beiseite legte, folgte bereits der nächste Schlag. Sie riss die Haustür auf: »Du hast es aber eilig, heute ist Sonntag!«

       »Entschuldige, ich muss dich dringend sprechend – es kann länger dauern,« ergänzte Richard, während er die Tür zudrückte und mit dem Rücken daran gelehnt stehenblieb. Richard Bates war Olivias ältester Freund, sie kannten einander solange sie sich zurückerinnern konnten. So bat sie ihn schlicht, sich einen Kaffee zu nehmen und einen Moment zu warten.

       »Amanda? Bin wieder da.«

       »Olivia, mir ist gerade eine tolle Kleinigkeit eingefallen. Es gibt zumindest noch einen Gast, der diese Rede unerträglich fand: Selwyn Farrell.«

       »Du sprichst von dem scharfgeschnittenen Gesicht mit der knarrenden Gesangsstimme neben dir am Tisch?«

       »Genau, immerhin ist er der einflussreichste Literaturkritiker Englands und –«

       »Oh, bitte, das weiß ich! Ich sah außerdem, dass er sich schrecklich schlecht benahm, zum Beispiel, wenn ihn eine Rede langweilte. Hast du bemerkt, wie oft er seinen Kopf zwischen die Hände nahm und auf das Tischtuch starrte. Vielleicht hat er die Augen geschlossen, man hätte es nicht gesehen.«

       »Er muss furchtbar gelitten haben. Gegen Ende von Keiths Rede stöhnte er leise in seinen Wein hinein: ›Ich ertrage das nicht länger!‹ und dann, stell dir das vor, kniff er mich in den Arm. Den blauen Fleck könnte ich dir zeigen.«

       »Wollen hoffen, dass er deinen Arm für den seinen hielt, sonst…« Im Hintergrund läutete die Türglocke. Olivia hörte, wie Amandas Schritte vom Teppich auf den Steinfußboden in der Diele wechselten und die Tür geöffnet wurde.

       »Guten Tag, Lady Cranfield. Entschuldigen Sie die Störung am Sonntag. Scotland Yard.«

       Während des Hin und Her im Telefon wandte Olivia sich zu Richard: »Sei so nett und leg etwas Holz nach, mir ist ungemütlich geworden.« Richard hatte in die Glut gestarrt, direkt vor dem Kamin stehend. Er reagierte etwas umständlich, doch bald tanzten kleine freche Flammen über den neuen Scheiten.

       Amanda hatte das Gespräch nolens volens beendet. Olivia holte sich jetzt ebenfalls einen heißen Kaffee und ließ sich vor der Wärme nieder. »Setzt dich auch, bitte.« Sie sah zu Richard hinauf. »Am Telefon war Amanda. In ihrem Wohnzimmer sitzen jetzt zwei Männer von Scotland Yard – eine merkwürdige Vorstellung.«

       »Findest du?« Richard hatte es sich ihr gegenüber endlich bequem gemacht. »Auch in deinem sitzt ein Mann vom Yard.«

       »Oh, ich neide ihr diesen Besuch gar nicht, Chief Inspector Bates,« sie deutete eine leichte Verbeugung an. »Nur – ein Freund ist mit lieber.«

       »Verstehe ich. Der Freund nahm sich einen Kaffee und kümmerte sich um das Feuer im Kamin,« er grinste nun doch ein wenig, »der Chief Inspector will mit dir reden.«

       »Du machst ein Gesicht, als hätte ich persönlich etwas verbrochen. Was ist los?«

       »Du warst gestern Abend in Dulwich?«

       »Stimmt. Woher weißt du das?«

       »Wie ich schon sagte, der Chief Inspector möchte mit dir reden.«

       »Ich finde dich ungemütlich!« Ungerührt schlürfte Richard seinen Kaffee. Über den Becherrand sah er sie abwartend an. »Ja, ich war in Dulwich, in der Dulwich Gallery, um ganz genau zu sein. Gemeinsam mit Amanda. Ich hätte Keith Aulton schon längst gern kennengelernt. Sie wusste das. Bei der gestrigen Einladung enthob dieser Wunsch sie der Peinlichkeit, Keith Aulton erklären zu müs-sen, warum ihr unkultivierter Gatte lieber zur Moorhuhnjagd fuhr, anstatt mit ihr diese exquisite Soiree zu genießen. Beim Empfang konfrontierte sie Keith Aulton mit der vollendeten Tatsache und beschrieb ihm meine Bewunderung für sein Werk in derart überschwenglichen Farben, dass ich daneben ganz blass wurde. Er sonnte sich in meinem Strahlen und ihrer Theatralik und allen war geholfen. Der perfekte Auftritt.«

       »…und die letzte Gelegenheit, Sir Keith kennenzulernen…«

       »Warum?«

       »Er ist tot.«

       »Richard!«

       »Ich war’s nicht!«

       »Das wäre wenigstens mal eine Pointe: Leitender Inspektor entpuppt sich als Täter.« Leicht verwirrt sah sie ihn aufmerksam an, trank den Becher leer und stellte ihn beiseite: »Richard, ist das ernsthaft wahr? Keith Aulton ist tot? Ist deswegen Scotland Yard zu Amanda gekommen?«

       »Deswegen. Aulton war für heute Nachmittag mit Lady Cranfield verabredet. Ich bat meinen Kollegen, diesen Termin persönlich abzusagen und bei der Gelegenheit ein erstes Gespräch zu führen.«

       »Amanda war’s auch nicht – Richard!« Olivia schoss auf einmal hoch: »Heißt das: Er ist ermordet worden?«

       »Wir wissen es noch nicht. Als Mrs Aulton heute Morgen gegen 8.45 Uhr nach ihrem Mann sah, lag er leblos im Bett. Da der Hausarzt nicht erreichbar war, schließlich ist Sonntag, rief man den Notdienst. Der kam, der Arzt besah sich den Toten, stellte Fragen und fand, dass die Antworten nicht zu dem passten, was er sah. Er diagnostizierte eine Strophanthinvergiftung. Sie kommt unglückseligerweise alle heiligen Zeiten einmal vor, wenn ein Herzkranker in seiner Panik zu viele Tabletten nimmt. Nun brauchte Sir Keith aber kein Herzmittel und natürlich enthält auch keines seiner anderen Medikamente dieses Glykosid. Aufgrund seiner stillen Schlussfolgerungen rief der Arzt bei uns an, statt den Totenschein auszustellen. Ich hatte gerade meinen Dienst angetreten.«

       »Da wird man von der Königin zum Ritter geschlagen und liegt am anderen Morgen tot im Bett. Absurd – findest du nicht auch?«

       »Nun, da die Königin gerade keinen Krieg führt und der neu geschlagene Ritter nicht ins Feld ziehen muss, wird es ihr nicht einmal auffallen – Olivia, ich würde mich mit dir gern über den Neujahrsabend unterhalten, über einige der Gäste weißt du sicher Berichtenswertes.«

       »Glaube ich nicht. Richard, wozu das alles, kann es nicht doch ein ganz natürlicher Tod gewesen sein? Alle möglichen Ursachen können zu einem unerwarteten Schlusspunkt führen.«