Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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das Essen erfüllte vielleicht diese Erwartung, die Reden sicher nicht. Nach jeder blieb ein kühler oder verkühlender Hauch im Raum hängen, am Ende hatten wir eine so frostige Atmosphäre, dass alle dankbar aufstanden und wieder herumzuschwärmen begannen, auch wenn sie sich kein versüßendes Dessert vom Büffet holen wollten. Eine Viertelstunde nach der letzten Rede gingen die ersten Gäste und nach einer weiteren halben Stunde war alles vorbei.«

       »Unauffälliger Rückzug von einer frostigen Abendgesellschaft in die befreiende Kälte einer Neujahrsnacht.« Leonard tat sein Bestes, den Unernst im Raum zu halten. »Wer begann drinnen mit dem Frost?«

       »Den Anfang machte Keith Aultons Bruder. Seine Ansprache war kurz, voll von Allgemeinplätzen und lobend bis zur Huldigung. Ich hielt sie für eine Kette unverfrorener Lügen.«

       »Dabei kennst du ihn gar nicht!«

       »Nein, es war mein Eindruck. Die Gesichter der Familie, die ich beobachten konnte, blieben unbewegt, der Dank erschöpfte sich in einem Nicken des Gelobten und die Vorspeise wurde serviert. Wir bezahlten sie, indem wir anschließend Mr Byatt, dem Verleger, zuhörten. Er kennt Aulton offenbar, seit er auf der Welt ist; sie scheinen Nachbarskinder gewesen zu sein. Merkwürdig, nicht wahr? Byatt ist allerdings zehn Jahre jünger. Er sprach von seiner Bewunderung gegenüber dem älteren Jungen, gab zwei Kindheitserlebnisse zum Besten und endete bei der Ehre, die es für ihn bedeute, erster und einziger Verleger dieses großen Dichters und Literaten zu sein. Feine Sache für einen jungen Verleger, zugegeben, nur – menschlich zugetan ist er seinem Dichter nicht oder nicht mehr.«

       »Der nächste Gang wurde serviert…«

       Olivia lachte endlich: »Bis Richard mit seiner Todesnachricht auftauchte, habe ich diese Veranstaltung angestaunt wie etwas Kurioses, von dem man am nächsten Morgen nicht mehr sicher sagen möchte, ob es wirklich wahr gewesen ist – der nächste Gang war eine französische Zwiebelsuppe, sehr heiß. Ihr folgte die Rede von Professor Beeverell; er verweilte die längste Zeit bei den gemeinsa-men Studienjahren in Cambridge. Das klang entsprechend engagierter und schwang sich bis zu ehrlicher Anerkennung auf, schon deshalb ehrlich, weil es ihn selbst jedes Mal mit einschloss.«

       »Du mochtest diesen Beeverell nicht?«

       »Ich kenne ihn doch gar nicht. Ich interpretiere lediglich, was ich hörte und – zugegeben – für erschreckend eitel hielt.«

       »Eitelkeit ist eine der verbreiteten Tugenden in der wissenschaftlichen Welt. Ich möchte nicht wissen, wie viele kühne Bücher wir vor allem ihr verdanken,« ließ Leonard den Gedanken freien Lauf.

       Richard hörte seinen beiden Freunden zu und begann, sich in ihrer Gesellschaft und vor den glimmenden Scheiten im Kamin behaglich zu fühlen. Am Ende war Sir Keiths Tod doch ein Unglücksfall, warum nicht? »Gab es noch mehr Reden? Ich finde drei eine ausreichende Menge.«

       »Oh nein, so billig kamen wir nicht davon, auch der Hauptgang wollte bezahlt werden. Und zwar mit der Rede beziehungsweise dem Lauschen der Rede des Herausgebers der Gesamtausgabe, der Name dieses Menschen ist mir noch immer nicht eingefallen. Er ist leicht eine ganze Generation jünger als Aulton und erfüllt von Bewunderung. Sie war der ganze Inhalt seiner Rede, ich erspare euch die vielfältigen Variationen, in denen man sie ausdrücken kann. Die Zuhörer durften am Ende überzeugt sein, dass der große Dichter für den jungen Mann das Schicksal in Person war.«

       »Habt ihr bemerkt, wie intelligent die Reden aufeinander folgen? Kindheit, Jugend, Studienzeit und Mannesalter. Was folgte als nächstes?«

       »Es gibt Gerüchte, er habe sich eine literarische Würdigung mit der Zusammenstellung seiner bisherigen Ehrungen erbeten. Amanda hat den Eindruck, dass er damit konkrete Absichten verfolgte, die selbst sie nicht errät. Doch die Dame, die diese Rolle zugewiesen bekam, weigerte sich. Also reden wir nicht weiter davon.«

       Leonard räkelte sich in seiner Sofaecke: »Schamlosigkeit ist eine Schwester der Eitelkeit. Meinen Respekt der Dame. Da ein Vorgriff auf das Greisenalter sicherlich kein geeignetes Thema abwirft, folgte der Dank des Geehrten, nehme ich an?«

       »Ja, richtig, und ganz ohne stärkenden Zwischengang. Immerhin gab es noch einmal Sekt, wenn es Champagner gewesen sein sollte, hätte ich es nicht bemerkt, fürchte ich. Der Jubilar bedankte sich in freier Rede, die ausschließlich um seine Person kreiste und das sehr ausgiebig. Danach waren alle reif für das Dessert, auch wenn mancher sich zu seinem eigenen Wohl rechtzeitig daran erinnerte, dass das Zusammenspiel von Alkohol und Zucker die Fahrtauglich-keit nicht erhöht.«

       »Offenbar lag der Gedanke an Flucht näher als der an Geselligkeit.«

       »Leonard, du bist unmöglich! Ich hätte es allerdings nett gefunden, noch mit einigen Gästen ein wenig zu plaudern und ich halte das für eine normale Erwartung.«

       »Ist es auch. Im Grunde ist der angenehmste Teil des Abends ausgefallen.«

       Richard grummelte: »Am Ende hatte jeder Sorge, auf die Reden angesprochen zu werden und zog es deshalb vor zu verschwinden. Ich hätte das sicher gemacht.«

       »… und einer verhielt in der Dunkelheit seinen Schritt und sann auf Rache…«

       »Leonard!«

      Kapitel 3

      Hallo, Amanda?«

       »Olivia – bei Anruf Mord?«

       »Mord! Das klingt nach einem alten Hollywood-Streifen. Aber der erzählt eine ganz andere Geschichte. Außerdem ist dieser Mord wirklich passiert, nicht nur im Kopf eines Drehbuchschreibers.«

       »Was ist schon wirklich? Ein guter Film verdichtet mehrere Momente des Lebens zu einer guten Geschichte. Alles, was in einem Film passiert, könnte auch im sogenannten wirklichen Leben geschehen, nur lässt der Film die Alltagsszenen dazwischen weg. Aber zurück zu unserem Fall: Die Groteske endete als Kriminalfall, ver-stehe ich dich richtig?«

       »Bedauerlich richtig. Es handelt sich um eine Strophan-thinvergiftung. Er hat das Gift in flüssiger Form zu sich genommen, das heißt, aufgelöst in einem seiner Getränke an seinem letzten Abend.«

       »Und zu welchem Punkt der Nacht darf ich mir diesen Sokrates-Trank vorstellen?«

       »Hat Sokrates nicht Selbstmord begangen?«

       »Stimmt. Wenn auch nicht ganz freiwillig. Also wann hat er den Schierlingsbecher gelehrt?«

       »Das ist nicht ganz einfach. Gestorben sein dürfte er gegen Mitternacht, doch so sicher, wie man gemeinhin annimmt, weiß die Medizin das nie. Zwischen Trank und Tod muss die eine oder andere Stunde liegen, die Dosis scheint relativ gering gewesen zu sein.«

       »Dann muss er ihn in unser aller Beisein geleert haben, wenn auch nicht vor unser aller Augen. Wer von uns hat das Gift in sein Glas getan – das ist die Frage.«

       »Amanda!«

       »Was ist? Wenn wir Selbstmord ausschließen, darüber sollte man allerdings noch sorgfältig nachdenken, muss es einer der Gäste gewesen sein, also einer von uns. Wo ist das Problem?«

       »Dieser Mensch wäre mit dem Gift in der Tasche…«

       »…und Mordgedanken im Herzen gekommen, um mit zu jubilieren und dem Jubel in einem unbeobachteten Moment ein Ende zu machen. Ein Vorgang von theatralischem Reiz!«

       »Es könnte aber auch eine Affekthandlung gewesen sein. Sir Keith hat sich an jenem Abend derart aufreizend benommen, dass es einem Menschen zu viel geworden sein kann.«

       »Und da wir alle ständig Gift in der Tasche herumtragen…«

       »Ja, du hast recht, das ist noch unwahrscheinlicher als eine vorsätzliche Tat. Lassen wir das Spekulieren. Richard hat fest vor, heute nach dem Abendessen zu mir zu kommen, sicher weiß er dann schon einiges. Aber, Amanda, bis dieser Mord aufgeklärt ist, sollte niemand von der Freundschaft zwischen dem Chief Inspector und mir erfahren, das kann nur zu Problemen führen.«

       »Probleme sind der notwendige Nukleus aller guten Geschichten.«

       »Findest du die Lage nicht doch etwas zu ernst, um sie ständig als Geschichte zu behandeln?«