Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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Grund müssen wir auf morgen Nachmittag verschieben – du hast sicher heute nach dem Aufwachen sowieso über diese Feier nachgedacht…«

       »Schon – boshaft und vergnügt. Jetzt müsste es gefährlich ernsthaft und so präzise wie eben möglich stattfinden; der Spaß ist verflogen und der Schock rumort noch.«

       »Klar, lass uns einfach zusammen weitermachen. Wie viele Gäste waren es?«

       »Warum hast du das nicht seine Frau gefragt?«

       »Dort habe ich nur so gefragt, dass nicht von vornherein Mord unterstellt wurde: wann der Tote entdeckt wurde, was daraufhin geschah, wer im Haus übernachtet hat und ähnliches.«

       »Und wer hat übernachtet?«

       »Außer dem Ehepaar Aulton nur die Schwester des Toten, Mrs Dodwell, und eine Freundin, Eudora Robin.«

       »Eine reizende alte Dame, sie saß an unserem Tisch! Hast du sie kennengelernt?«

       »Hab ich. Die drei Damen standen in ihrem Entsetzen zusammengerückt wie ein Triptychon in einer Grabkapelle – wer ist Mrs Robin?«

       »Sie ist Schriftstellerin, inzwischen sehr erfolgreich, doch nicht populär. Es sind Erzählungen, seltener Romane über die einfachen Menschen und ihren Kampf mit dem Leben, scharfsichtig und detailliert, begleitet von Respekt und Anteilnahme. Ich bin nach dem Lesen meist nachdenklich und anschließend klüger. Seit gestern weiß ich, dass sie in einem Dorf in Cheshire wohnt, nicht allzu weit entfernt von Manchester. Sie lebt allein in einem kleinen alten Haus inmitten eines großen Gartens, sie liebt die Gartenarbeit als Entspannung vom Schreiben, zur Gesellschaft hat sie Katzen, es klang nach einer ganzen Horde.«

       »Hm, mit den Aultons befreundet? Seit wann und wie, mit ihm, mit ihr, mit beiden?«

       »Diese unterirdischen Zusammenhänge kenne ich fast alle nicht, dazu müsstest du dich mit Amanda unterhalten.«

       »Na gut. Wer saß neben Mrs Robin?«

       »Zu ihrer Linken folgte das Ehepaar Wilson. Er ist Dramatiker, seine großen Erfolge lagen in den ausgehenden fünfziger und in den sechziger Jahren, seither ist es stiller um ihn geworden, jedenfalls in der Presse. Er schreibt erfolgreich und zahlreich Drehbücher für die BBC. Sein Handwerk beherrscht er und seine Fähigkeit, aktuelle Probleme gescheit und witzig auf den Punkt zu bringen, findet nach wie vor ein großes Publikum, nur ist er kein Medienstar mehr. Seine Frau fand ich etwas schwierig, sie entstammt wie er der Arbeiterschicht und versucht das mit geziertem Benehmen zu kaschieren. Ich hatte das Pech, als Amandas Gatte neben ihr zu sitzen.«

       »Ich könnte mir vorstellen, dass du als Lord eine elegante Erscheinung abgegeben hast!«

       »Um Mrs Wilson als solcher zu beeindrucken, hätte ich mindestens ein Monokel tragen und durch die Nase sprechen müssen.« Olivia streckte ihre Hände zum Feuer, sie waren kalt. »Also weiter: An Eudora Robins rechter Seite saß Neville Seymour, eine Gestalt von würdevoller Zerbrechlichkeit, ich war beeindruckt und fühlte immer wieder die Versuchung, ihn in etwas Weiches schützend einzupacken, als wäre alles und alle um ihn herum zu laut – außer Eudora Robin, sie ist eine wundervolle, alte Dame – könnte ich mir jedenfalls denken.«

       »Zweifel?«

       »Ich habe sie erst gestern kennengelernt. Ihre Bücher passen allerdings ganz gut zu dem ersten persönlichen Eindruck.«

       »Mr Seymour ist ebenfalls Schriftsteller, nehme ich an?«

       Olivia musste über Richards resignierte Miene lachen: »Mörder sucht man normalerweise in anderen Welten, nicht wahr? Vielleicht ist es ein Hoffnungsschimmer, dass Keith Aulton doch eines natürlichen Todes gestorben ist.«

       »In dem Fall habe ich heute einiges für meine Bildung getan. Fahr bitte fort im Text.« Sein Gesicht war wieder ernst geworden und in Olivia wuchs das Unbehagen.

       »Neville Seymour – seine künstlerische Existenz ist mehr als rätselhaft. Als sehr junger Mann hat er einen Roman und mehrere Erzählungen von einem weltentrückten und dabei doch ganz diesseitigen Zauber geschrieben. Damals regte sich der Verdacht, Virginia Woolf habe einen Nachfahren bekommen, oder auch Dylan Thomas. Seitdem hat er nichts mehr publiziert.«

       »Wann war das?«

       »Gerade nach den wilden Sechzigern.« Olivia war zu einem ihrer Bücherregale hinübergegangen. »Vor dreiund-dreißig Jahren ist dieser Roman erschienen; als er sich als nennenswerter Erfolg entpuppte, sammelte der Verlag die in diversen Zeitungen erschienenen Erzählungen und publizierte sie als Sammelband, zwei Jahre später. Merkwürdige Vorstellung: Der Roman erschien zwei Jahre nach meiner Geburt, seitdem und somit fast mein ganzes bisheriges Leben hindurch schwieg dieser Mensch, der mir nichtsdestotrotz gestern lebendig gegenübersaß. Beredt war er allerdings auch da nicht.«

       »Und wovon hat er in diesen Jahrzehnten gelebt?«

       »Es heißt, er sei äußerst glücklich verheiratet.« Leise Missbilligung zeichnete sich um Richards Mundwinkel ab.

       »Seine Frau muss eine ungewöhnliche Mischung aus Verständnis für künstlerische Probleme und eigener Tatkraft sein. Jedenfalls sorgt sie für die notwendige Sicherheit in jeder Hinsicht, sie haben übrigens auch mehrere Kinder. Gerade fällt mir ein, dass er fotografiert. Ich bin im großen Dillon’s, du weißt, der Buchladen hinter dem Britischen Museum, der ein ganzes Haus ausfüllt, auf einen Fotoband über Industrieruinen und die Menschen, die in deren Umgebung leben, gestoßen, im Regal fand ich zwei weitere, einen über die Industriegebiete im Norden und einen allgemeineren über Menschen in England.«

       »Also war er nicht ganz untätig in all der Zeit.«

       »Nein. Wir wissen einfach nichts über ihn. Er könnte sich um die Kinder gekümmert und gekocht haben, wär’ doch möglich. Oder er überrascht die Welt plötzlich mit einem neuen Roman. Die beiden Möglichkeiten schließen sich abgesehen davon nicht aus – neben Neville Seymour am Tisch saß Mrs Farrell, sehr elegant, recht sympathisch und höchst routiniert in gesellschaftlichen Situationen wie gestern. Sie und Amanda sorgten jederzeit für leichte, unkomplizierte Unterhaltung, wenn eine der Reden überstanden war. Selwyn Farrell, ihr Gatte, hatte Amanda zu seiner Rechten und der erste Kreis ist geschlossen. Selwyn Farrell ist…«

       »Der Name ist sogar mir bekannt, wir können ihn im Moment übergehen.«

       »Was ihm nicht oft passieren dürfte, er würde es sich auch kaum gefallen lassen. Mir schien, als sei er durchaus in der Lage, sich wie ein aufmüpfiger Schuljunge zu benehmen.«

       Richard zählte die Namen in seiner Kladde: »Acht Personen saßen an eurem Tisch. Kannst du mir die Sitzordnung bitte aufzeichnen und dich dabei an möglichst viele Gäste erinnern?«

       »Ich verstehe dich nicht, all das erfährst du einfacher und vollständiger, nebenbei auch zuverlässiger, von Mrs Aulton.«

       »Sicher, in den nächsten Tagen. Ich werde es dann vergleichen, könnte auch interessante Ergebnisse zeitigen. Olivia, du bist der einzige Mensch, mit dem ich schon heute über den Fall reden kann, ich gewinne dadurch anderthalb Tage Vorsprung.«

       »Vorsprung gegenüber dir selber.«

       »Wie auch immer, und du erinnerst dich heute möglicherweise noch genauer als in drei Tagen, lass dich nicht so lange bitten.«

       »Ich will mich gar nicht bitten lassen. Es sträubt sich nur etwas in mir gegen dein Vorgehen. Es nimmt das medizinische Gutachten vorweg und entscheidet sich für Mord.«

       »Der Arzt hatte dafür starke Argumente. Außerdem dürfte die Todeskunde ihren Weg aus dem übrigens sehr schönen Haus in Dulwich bereits angetreten haben und du kannst sicher sein, dass der Mörder oder die Mörderin, wenn es denn eine solche Person gibt, ein dringliches Interesse daran hat, den Ausgang des eigenen Unternehmens zu erfahren. So gesehen versuche ich im Moment, den glücklichen Zufall, dass du auf dieser Gesellschaft warst, auszunutzen und mit der fraglichen, wenn auch noch unerkannten Person Schritt zu halten. Mehr ist es eigentlich nicht.«

       »Nun denn, daran will ich dich wirklich nicht hindern.« Olivia brachte einen Stoß alten Papiers und einen Bleistift von ihrem Schreibtisch und setzte sich neben Richard.