Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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»Nein, das wäre ja auch Zeitverschwendung! Richard wird mir später schon erzählen, was war. Wir könnten währenddessen Beeverells Frau besuchen, wird sicher interessant. Anschließend sehen wir weiter…«

       »…und man weiß nie, wen man in Cambridge trifft…«

       »Also halt morgen die Augen offen! Hier,« Olivia schob die Listen über den Tisch, »wen von diesen Leuten kann man irgendwo ›zufällig‹ treffen, weil er feste Gewohnheiten oder Termine hat?«

       Amanda brütete eine Weile über den Kolonnen, schließlich tippte ihr Finger auf einen Namen: »Weinreb hat, soweit ich weiß, ziemlich feste Gewohnheiten. Seine Vormittage verbringt er in der Bibliothek des Britischen Museums. Früher ging er zum Lunch in eine der Sandwichbars in der Nähe des Museums, vielleicht isst er heute im Neubau der Library, du weißt, wie praktisch das ist. Das könnte ich herausfinden, es kostet nur ein bisschen Zeit. Ich schreibe es mir mal für Donnerstag auf für den Fall, dass es nichts Zwingenderes zu tun gibt – Keiths Familie ist ein Fall für sich, mit ihr zu reden sehe ich einstweilen keinerlei Möglichkeiten – außer hier vielleicht,« die Spitze ihres Stiftes umkreiste einen Namen: »Albert Aulton. Er hat eine kleine Buchhandlung, irgendwo. Um das herauszufinden, dürfte das Telefonbuch reichen. Das wäre eine hübsche Unternehmung für Samstag-Vormittag: Wir zwei gehen Arm in Arm bummeln und stehen rein zufällig vor dieser Buchhandlung, gehen hinein wie in jede Buchhandlung und – so eine Überraschung, treffen auf Albert Aulton: ›Kennen wir uns nicht? Woher nur…«

       »Amanda! War das nicht dieser kleine Mann am Tisch der Familie, der uns seinen Rücken zuwandte, gebeugt wie ein Abwehrschild? Über den kannst du doch nicht so herfallen!«

       »Ich kann auch sehr sanft und mitfühlend sein, wenn die Lage es erfordert, wir werden sehen…«

       »Keine Zweifel… Das sind immerhin schon drei bis vier feste Ermittlungsziele, je nachdem, ob man das Ehepaar Beeverell einfach oder doppelt zählt.« Olivias Blick streifte die Küchenuhr: »Ich muss sausen, ich muss mich nämlich noch maskieren.« Auf Amandas überraschten Blick hin stahl sich der Übermut in ihre Augen. »Tödliches Gift organisiere ich lieber nicht als ich selber, nicht mal, wenn ich nur als Begleitperson dabei bin.«

      ⋆

      Am späteren Nachmittag machten sich Leonard und Olivia auf den Weg nach Norden, von Fulham nach Willesden bedeutete das U-Bahn mit zweimal Umsteigen. So verloren sich ihre Spuren in der großen Stadt, Olivia fand das beruhigend. Sie hatten sich so weit verkleidet, dass selbst ihre besten Freunde sie nicht auf Anhieb erkannt hätten. Von ihrer End-Station nahmen sie ihren Weg durch die stillen Wohnstraßen von Willesden, kräftig ausschreitend, denn es war kalt. Als sie die Willesden Lane erreichten, war es finster. Leonard wurde langsamer, sah sich um und blieb vor dem einen oder anderen Laden stehen, ganz als wolle er einen leeren Feierabend verbummeln. So gelangten sie zu einem dunkelrot gerahmten Schaufenster, in dem sich verpackte Lebensmittel drängten, dazwischen Holzgeschirr und eine schmale, langhalsige Kalebasse. Leonard studierte die Auslage, bis er schließlich die Ladentür aufstieß. Ein Geruch von Kräutern und Fetten schlug ihnen entgegen, gemischt mit Kerosin. Es war sehr warm und ziemlich dunkel. Im Dämmerlicht erkannte man flache Regale mit kleinen Fächern, in denen sich bunte Verpackungen aneinanderreihten, auf dem Boden standen Kisten mit Gemüse, Säcke mit verschiedenen Hülsenfrüch-ten und dazwischen Tonkrüge und Körbe. An den Regalen hingen Fetische in den verwegensten Gestalten, so befand jedenfalls Olivia, der es vorkam, als habe sie leichtsinnig an ihrem Kompass gedreht und die bekannte Welt verlassen.

       Für Leonard war die bunte Vielfalt weniger fremd. Er kannte etliche afrikanische Staaten. Forschend sah er sich um, bis eine korpulente Frau hinter dem Vorhang an der Rückseite des Ladens zum Vorschein kam. Sie trug eine weite afrikanische Tunika und die Haare in einen Turban aus dem gleichen Stoff geschlungen. Nach einem knappen Blick vom einen zum anderen wandte sie sich zu Leonard und ein Hin und Her über Fetische begann. Leonard suchte einen, der für das Weiterleben nach dem Tod zuständig war. Die schwarze Frau reichte ihm den einen und anderen, sie redeten lebhaft, bis Leonard sich entschied. Mit dem Fetisch in der Hand erklärte er, dazu brauche er noch Uabayo, ob sie ihm das ebenfalls geben könne. Es begann erneut eine Debatte, dieses Mal in einer für Olivias Ohren fremden Sprache. Eine junge Schwarze mit zwei kleinen Kindern kam herein, kaufte einige Yams, zahlte und ging. Die fremden Silben flossen weiter. Schließlich hob die schwere Frau beide Hände in Schulterhöhe, neigte leicht den Kopf und es war still. In der spärlichen Beleuchtung ihres Ladens wirkte sie mächtig und unheimlich. Nach kurzem Schweigen griff sie den Fetisch aus Leonards Hand und erklärte, nun wieder auf Englisch, er solle Freitagmittag wiederkommen, dann werde er beides erhalten, den Fetisch und die Kügelchen. Der Vorhang im Hintergrund des Raumes knallte leicht und Leonard und Olivia waren allein.

       »Möchtest du auch Yams essen, vielleicht mit Palmöl angerichtet?« fragte Olivia in die Stille hinein. Sie fand die Atmosphäre aus fremden Gerüchen und Dunkelheit beklemmend, während Leonard mit leichtem Staunen auf dem Gesicht begonnen hatte, sich erneut umzuschauen.

       Er verstand den Wink: »Nein, heute nicht, vielleicht am Freitag.« Damit öffnete er die Tür und folgte Olivia in die kalte Januarluft.

       »War das Suaheli? Was hat sie gesagt?«

       »Genau. Wir sprachen Suaheli, sie kommt aus Mozambique. Sie wollte wissen, wie ich auf meiner Suche nach einem Todesfetisch ausgerechnet auf sie verfallen sei und so weiter. Wir drehten uns eine Weile im Kreis, weil ich genau das nicht verraten wollte, wie du dir denken kannst. Genauso wenig meinen Namen, den sie zu ihrem Schutz wissen wollte. Ich schwor ihr, dass von dem Uabayo keine Spur zu ihr zurückführen werde. Diplomatische Probleme erster Güte. Jedenfalls haben wir so lange ihre Sicherheit diskutiert, bis sie nicht mehr bestreiten konnte, dass sie dieses Gift beschaffen könne. Nachdem die junge Frau uns beiden eine Atempause ver-schafft hatte, ging es lediglich noch um die Form, in der ich das Gift wollte, und um den Preis. Jetzt bin ich neugierig, was am Freitag sein wird.«

       »Sie hat nicht gefragt, wozu du Uabayo – ist das Strophanthin auf Suaheli?«

       »Nicht ganz, es ist der Name des Pfeilgiftes, das sich vermutlich in Keith Aultons Whisky fand.«

       »Prima. Also, sie hat nicht gefragt, wozu du das Gift willst?«

       »Natürlich nicht! Sie will sich doch keiner Mitwisserschaft schuldig machen. Und die Wahrheit würde sie ja auch schwerlich erfahren, was denkst du?«

       »Wie dumm von mir. Ich fürchte, ich hätte zu erklären versucht, dass unsere Ratten inzwischen arsenresistent sind oder etwas Ähnliches.«

       »Und wo gibt es so schreckliche Ratten?«

       »Hinter Chalk Farm Road?« sie sah fragend und ein wenig listig zu ihm hinauf. »Es gibt dort wirklich zu viele.«

       Leonard grinste: »Wenn du statt meiner die Verhandlungen hättest führen wollen, wäre dir auch rechtzeitig aufgegangen, dass du nichts erklären willst. Gift will man, dafür braucht es keinen Grund.«

       Olivia schüttelte den Kopf: »Wenn ich Kekse in unserem Laden um die Ecke kaufe, begründe ich natürlich nichts. Aber das ist eben erleichternd normal.«

       »Die Kekse sicher, jedenfalls wenn sie nicht angeschimmelt sind, was schon vorkam. Ob alles andere, was dort über die Theke geht, derart normal ist, hat dich bis heute einfach nicht beschäftigt, oder?« Sie waren auf der Kilburn High Road angekommen und entschlossen sich spontan, die denkwürdige Unternehmung mit einem wärmenden Curry in dem Indischen Restaurant, an dem sie gerade vorbeikamen, abzurunden.

      Kapitel 5

      Amanda trat das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Glücklicherweise war das Land flach und die Straße leer und ziemlich gerade. Sie waren in Verzug, ein liegengebliebener Lastwagen hatte sie mehr als eine Viertelstunde gekostet und davor hatte sie noch tanken müssen. Olivia schwieg. Eine dreiviertel Stunde später schoss der Wagen nach Cambridge hinein, kurz hinter dem Fitzwilliam Museum bog Amanda in eine kleine Seitenstraße ab, fuhr dicht an den Bordstein und stellte den Motor aus.

       »Heute riskiere ich ein Strafmandat. Dann schaffen wir es noch. Komm!«