Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend


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Art Material verarbeite ich lieber in meinen Geschichten…«

       »Zu spät! Aber ich behaltʼs für mich, es sei denn, ich komme zu dem Schluss, dass Richard es wissen sollte. Also…«

       »Na ja, der Zeitraum, zu dem die beiden gemeinsam studierten, liegt um 1959-60. Es ist der Vorabend der 68iger Unruhen, die Zeit endloser Gespräche in verschworenen Gruppen, ein erster Aufbruch, aber noch nicht auf der Straße.«

       »Unter Obhut der Gummibäume,« grinste Olivia. Auf Amandas irritierten Blick hin ergänzte sie: »Weißt du nicht mehr? Damals stand doch in fast jedem bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Wohnzimmer ein Gummibaum herum, anfangs am Fenster, später in irgendeinem kahlen Winkel, der dadurch auch nicht anmutender wurde.«

       »Oh mein Gott, ja.« Da Olivias abwartender Blick eine weitere Abschweifung nicht zuließ, machte sie weiter: »Es ist denkbar, dass Keith und Beeverell in dieser Zeit ein sexuelles Verhältnis hatten. Manchmal weht diese Erinnerung durch ein Gespräch wie ein Schatten, der nicht sein darf, eher weil er damals nicht sein durfte, als dass er heute jemanden aufregen würde. Doch ist die Geschichte inzwischen so lange vorbei, dass man sie eigentlich lieber ruhen lässt, aber eben nicht völlig. Sonst könnte sie bei mir nicht vorbeigekommen sein.«

       Olivias sah die Freundin fast ratlos an. »Über Homosexualität kann man heute einfach reden… auch wenn es sich um ein Experiment gehandelt hat, beide haben seit langem Familien… Es könnte allerdings erklären, warum Mrs Beeverell Keith nicht im Haus haben wollte – ungefähr so ungern wie eine abgelegte Geliebte.« Sie dachte an die schmal werdenden Augen. »Vielleicht erklärt es andererseits ein wenig, warum die zwei Männer so fest aneinander hängen blieben. Und immer neue Zukunftspläne erfanden…«

       »Zu ihnen werden wir Beeverell nachher fragen, er wird sie uns bestimmt erzählen.«

       »Du willst seine Konferenz im ›Dying Dragon‹ – was für ein kurios passender Name im Augenblick – stören?«

       »Will ich. Und bis dahin werden wir uns einwandfrei verhalten! Du kannst dich doch sicher für drei bis vier Stunden in der Universitätsbibliothek beschäftigen, nehme ich an?« In Olivias staunendes Gesicht fuhr Amanda fort: »Ich gehe für zwei Stunden mit. Danach absolviere ich meinen angekündigten Besuch in der Galerie und sehe mir die Bilder des jungen Genies an, über das Mrs Beeverell so schwungvoll animierende Worte fand. Ich werde standhaft bleiben und kein Bild kaufen, weil ich so etwas niemals spontan mache. Gegen vier Uhr hole ich dich ab und wir sehen weiter.«

      Kapitel 6

      Olivia schüttelte sich, als sie in die feuchte Dämmerung des Januarnachmittags trat. Sie hatte die Bücherruhe noch nicht ganz abgelegt und die Friedhofsatmosphäre des Memorial Court empfand sie heute lastender als bei anderen gelegentlichen Besuchen. Amanda hatte die letzten Stunden genossen, das sah sie deutlich. »Ist der Maler wirklich so gut?«

       »Er ist bunt, das vor allem. Ich liebe Farben. Und in unserer Diele wäre eine der großformatigen bunten Hochlandwiesen eine erfrischenden Belebung. Nur – ob ich meinen Mann davon überzeugen kann… ich werde mein Möglichstes tun, ihn zu einem gemeinsamen Besuch in der Galerie zu bewegen…«

       »Du hast Mrs Beeverell vor Ort angetroffen?«

       »Richtig kombiniert. Sie erwies sich als geschäftsfördernd freundlich und zuvorkommend. Beim Abschied bedauerte sie, dass ihr Mann leider immer bis nach sieben Uhr mit seinem Trinitiy-Kollegen konferiere…«

       »Und wann beginnen sie?«

       »Sie haben schon begonnen,« Amandas Augen blitzten. »Es gibt so ungeheuer interessante Schaufenster in der Gasse des ›Dying Dragon‹, dass ich mich die längste Zeit nicht von ihnen losreißen konnte. So wollte es der Zufall, dass ich die beiden Herren gemeinsam hineingehen sah.«

       »Na, dann los!« Olivia war wieder munter. Zügig durchmaß sie die flache grüne Weite neben dem Fluss, vor sich die hellen Türme und Türmchen der Colleges. »Ich muss mich wieder munterlaufen,« erklärte sie Amanda.

       Auf dem Brückenbogen fasste diese sie am Arm und drehte sie zur Steinbrüstung. »Stopp! Pass auf, gleich geht’s weiter.« Folgsam und hellwach schaute Olivia einem Ast zu, der sich um sich selbst drehend auf dem Fluss näher trieb. Amanda schien ihn auch zu beobachten. Unvermittelt wechselte sie zur gegenüberliegenden Brückenseite und wäre dabei fast mit einem jungen Mann zusam-mengestoßen, der in Gedanken und folglich ziemlich unaufmerksam daherkam. Aber nur fast. Amanda hielt gerade noch rechtzeitig inne und wollte ihn vorbeigehen lassen, als sie einen leisen Ton der Überraschung ausstieß. Der junge Mann hob nun endlich seinen Blick und blieb höflich stehen: »Lady Cranfield, entschuldigen Sie, ich habe nicht aufgepasst!« Höflich reichte er ihr die Hand zur Begrüßung. Olivia gab dem Menschen den Vorzug vor dem treibenden Ast und drehte sich der Szene in ihrem Rücken zu. Er erkannte sie zumindest dem Gesicht nach wieder und reichte ihr ebenfalls die Hand.

       »Mr Ingram, Sie sehen entsetzlich leidend aus! Sie sind doch nicht krank?« Amanda hob leicht die Hand: »Entschuldigen Sie meine Direktheit, aber ich bin richtig erschrocken…«

       »Nein, ich bin nicht krank. Der plötzliche Tod von Sir Keith hat mich ziemlich erschüttert und noch bin ich nicht wieder ganz ich selber.«

       »Ich wusste ja nicht, dass Sie einander so nah standen.«

       »Ja sehr, er war für mich wie ein Vater, jedenfalls in den letzten sechs bis sieben Monaten.«

       »Das kann ich mir in Zusammenhang mit Keith gar nicht vorstellen. Wollen Sie damit sagen, er hat sich um Sie gekümmert? Das ist doch nicht möglich!«

       »Oh doch, da verkennen Sie ihn. Wir hatten durch meine Arbeit an der Gesamtausgabe – Sie wissen davon? – häufigen Kontakt miteinander. Er mochte mich, das darf ich wohl sagen. In den letzten Monaten belasteten mich meine privaten Schwierigkeiten etwas über Gebühr. Er erkannte das und hat viel mit mir geredet.«

       »Aber er hörte nicht zu!«

       Irritiert sah Ingram sie an: »Doch natürlich tat er das, sehr genau. Er hat mir wirklich geholfen.« Er neigte den Blick zu seiner linken Schulter und automatisch folgte die rechte Hand mit gespreizt-gestreckten Fingern nach.

       Amanda ließ ihr Gegenüber vorübergehend aus dem Blick und schaute auf den Fluss. »Was Sie erzählen, verwundert mich beträchtlich.« Sie betrachtete wieder den jungen Mann vor sich. »Ich habe mit einem völlig anderen Keith zusammengearbeitet. Er hat Ihnen sicherlich von unseren Plänen für einige Anthologien erzählt?«

       »Ja, er sprach gelegentlich davon.« Diese Antwort klang reserviert, registrierte Olivia, passend zu dem linken Arm, der wie ein Schild vor dem Körper lag, während die rechte Hand sich noch immer an der Schulter spreizte.

       »Er wirkte auf mich in den letzten Monaten eher müde, wenig interessiert an Zukunftsplänen, irre ich mich darin?«

       »Das will ich nicht sagen, niemand fühlt sich immer gleich. Die Gesamtausgabe seiner Werke war ihm jedenfalls unverändert wichtig.«

       »Ja, durchaus möglich, dass ihn Ihre Arbeit beflügelte. Zeigten sich in diesen guten Stunden Gedanken an einen neuen Roman?«

       »Manchmal schien mir, er habe neue Ideen für ein Buch, aber leider verloren sie sich im Laufe der Wochen wieder. Es folgten andere Ideen, sie lagen aber so entfernt von den vorangegangenen, dass sie vermutlich nicht in denselben Roman gepasst hätten. In diesen Stunden wollte Sir Keith auch keine Reaktionen von mir, ich sollte still sein und zuhören. Das helfe ihm, bekundete er im Nachhinein wiederholt, schließlich wusste ich es auch ohnedies.«

       Ein paar Atemzüge lang schwieg Amanda und Ingram wartete wie selbstverständlich. Seine Rechte sank, suchte den Griff der Aktentasche und verknotete sich darum und in die linke Hand hinein.

       »Warum hat die Erhebung zum ›Sir‹ ihn nicht wieder zum Schreiben gebracht? Sie zeigt doch, dass die Menschen ihn noch immer gern lesen, auch nach den vielen schweigenden Jahren. Wie haben Sie das erlebt?«

       »Die Nachricht erreichte ihn im Spätsommer… Jetzt werden Sie ein wichtiger Mann‹, lautete seine erste Stellungnahme zu mir, nachdem er mich