Giorgos Koukoulas

Atlantis wird nie untergehen


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von Familie und Freunden, die ihm zu einer fundierten und gesicherten beruflichen Karriere rieten, warfen Alexandros aus der Bahn seiner ursprünglichen Pläne. Am Ende landete er an Nachhilfeschulen in seinem Viertel und gab Unterricht zur Prüfungsvorbereitung auf das Physikexamen. Seine einst wohlhabende Familie hatte in den letzten Jahren mit starken wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Das kleine Familienunternehmen seines Vaters konnte mit den modernen Erfordernissen des Marktes und den rasanten technologischen Entwicklungen im Computerbereich nicht mithalten. Der einträgliche Elektronikladen mit angeschlossener Reparaturwerkstatt aus den Achtzigerjahren gehörte inzwischen der Vergangenheit an. Die Firma kämpfte nunmehr täglich darum, ihre Kosten zu decken, und hatte längst den ungleichen Wettbewerb gegen die modernen multinationalen Unternehmen verloren.

      Es war sieben Uhr morgens, als sein Handy klingelte. Derartig frühe Anrufe war er nicht gewohnt. Er wunderte sich noch mehr, als er sah, dass auf dem Display kein eingespeicherter Name erschien, sondern zehn nichtssagende Zahlen blinkten. Neugierig fragte er sich, wer ihn so früh am Morgen störte und was man wohl von ihm wollte. Doch dann fiel es ihm nicht schwer, die stets enthusiastische, lebhafte Stimme seines verehrten Professors wiederzuerkennen. Nachdem Nikodimos in Windeseile die förmlichen Fragen und Antworten hinter sich gebracht hatte, die sich gehören, wenn man über ein Jahr nicht mehr miteinander telefoniert hat, kam er direkt zur Sache.

      „Alexandros, ich brauche deine Hilfe.“

      Die Lebhaftigkeit seines Tonfalls hatte sich verloren und war in den Ernst übergegangen, der den Professor auszeichnete, wenn er sich während seiner Vorlesungen mit kritischen Fragen befasste. Vorlesungen, die stets in einem voll besetzten Hörsaal stattfanden, selbst wenn die restliche Fakultät leer war - wegen Streiks, Wahlen, Feiertagen und einem Dutzend anderer Gründe, die die Universitäten häufig in ausgestorbene Gebäude verwandeln. Der Professor fuhr fort.

      „Ich kann es dir nicht am Telefon erklären, aber du bist der Einzige, dem ich vertraue. Du musst unbedingt sofort nach Santorin kommen. Sofort, hörst du?“ Seine Worte klangen nun stockend und zeugten von seiner inneren Erregung. „Ich bin einer sehr großen Entdeckung auf der Spur … einer außerordentlich großen Entdeckung.“ Nach seinen letzten Worten entstand eine kleine Pause - der Professor versuchte, sich zu sammeln. „Ich erwarte dich morgen, spätestens übermorgen. Die Angelegenheit erlaubt keinen Aufschub, ruf mich an, sobald du weißt, wann du genau ankommst.“

      Der anhaltende Signalton an seinem Ohr zeigte an, dass das Gespräch abrupt beendet worden war. Ein Monolog, bei dem Alexandros keinen Augenblick die Möglichkeit hatte, ‚nein‘ zu sagen.

      Das Schiff war endgültig in die Caldera von Santorin eingelaufen. Die Häuser auf den Anhöhen waren jetzt deutlich sichtbar. Rechts fuhren sie an zwei kleinen schwarzen Inseln in der Mitte des Kraterbeckens vorbei. Junge Inseln, die ausschließlich aus Lava bestehen, die erstmals vor zweitausend Jahren ausgeströmt war. Seitdem haben sich ihre Größe und ihre Formen häufig gewandelt, ganz nach den Launen des Vulkans. Das letzte Mal hatte er vor dreihundert Jahren beschlossen, seine Morphologie zu verändern, und damals tauchten inmitten von Erdbeben und Eruptionen aus dem Meeresgrund nach und nach neue Stücke Land auf. Diese verbanden sich allmählich miteinander und bilden heute die zweite der beiden Inseln mit dem sprechenden Namen Nea Kameni – die Neue Verbrannte.

      Alexandros war nicht das erste Mal auf Santorin. Insel der Liebe … die Kykladeninsel war für alle frisch verliebten Paare das Traumziel schlechthin. Auch er konnte diesem Mythos, oder besser dem Trend der Zeit, nicht entgehen. Erinnerungen an einen Ausflug zu diesen kleinen schwarzen Inseln überkamen ihn, den er vor sechs Jahren am zweiten Urlaubstag zusammen mit Afroditi unternommen hatte. In der Broschüre des Reisebüros stand mit riesigen roten Lettern:

       AUSFLUG ZUM VULKAN

      Es sollte einige Tage dauern, bis ihm bewusst wurde, dass eigentlich jeder Tag auf dieser Insel ein Ausflug zum Vulkan war. Ohne sich entsprechend zu informieren und auf die Unternehmung und ihre Erfordernisse vorzubereiten, starteten sie zu dieser kleinen Odyssee. Alexandros dachte die ganze Zeit an nichts anderes, als mit seiner Partnerin heftig zu flirten. In den geheimen Windungen seines lüsternen Gehirns tickte ein Countdown bis zu ihrer nächsten sexuellen Begegnung. Zum ersten Mal im Leben musste er die Erfahrung machen, wie quälend das Verlangen nach dem Körper einer Frau sein kann.

      Der Ausflug erwies sich als totaler Reinfall. Mit jedem Schritt, den er auf dem unebenen Boden tat, gelangten die heißen schwarzen Steinchen schmerzhaft zwischen seine Fußsohlen und die Flipflops. Da war ihm klar geworden, warum alle Touristen der Ausflugsgruppe – und durch einen gemeinen Zufall auch seine Begleiterin – mitten im Sommer Socken und Sneakers trugen! Wie es sich herausstellen sollte, und zwar wiederholt während dieser Zeit, beanspruchte er die Mehrheit seiner grauen Zellen für den erotischen Countdown, ohne in seinem Hirn für weitere Funktionen Platz zu lassen. Doch das Martyrium ging weiter, als sie den Pfad hinaufstiegen, und inzwischen hatte seine missliche Lage sogar die ungezügelte imaginäre Zeitschaltuhr für den nächsten Sex außer Kraft gesetzt: Sollte er sich blamieren und zugeben, welche Qualen er bei jedem Schritt durchmachte, oder sollte er den Weg fortsetzen wie ein neuer Feuerläufer, nur nicht zu Ehren Gottes, sondern um der Liebe willen? Sein schmerzverzerrtes Gesicht und sein unbeholfener Gang befreiten ihn schließlich aus der Zwangslage. Es war ausgeschlossen, dass die anderen Mitwanderer nichts bemerkten. Der Führer der Gruppe, ein sonnengebräunter, nahezu verkohlter Einheimischer, kam schließlich und kniete sich vor ihn hin. Er öffnete seinen Rucksack und holte ein Paar bräunliche Socken heraus, die sicherlich beim ersten Tragen einmal weiß gewesen waren. Alexandros konnte sich noch genau an die Worte des Führers erinnern:

      „Zieh die an, dann geht es dir ein bisschen besser. So etwas passiert nicht zum ersten Mal, aber ich kann ja wohl schlecht auch noch Schuhe in verschiedenen Größen mit mir herumschleppen.“

      Sein Angebot wurde von einem leicht ironischen Lächeln begleitet. Das Ganze verschlimmerte sich noch, als sich das Lächeln in ein geiles Grinsen verwandelte, während er aufdringlich seine Freundin Afroditi betrachtete, die direkt neben ihm stand. Wie peinlich! Jetzt eine Tarnkappe, das war sein einziger Gedanke. Eine Tarnkappe, die ihn just in diesem Moment unsichtbar machen würde. Sein einziger Trost war das Schwarz der Landschaft, das mittlerweile hundertprozentig zu seiner Stimmung passte.

      Das doppelte Tuten aus dem Schiffshorn riss ihn aus seiner kurzen Rückblende in die Vergangenheit. Auch Afroditi gehörte nur noch zu dieser Vergangenheit und zu seinen Erinnerungen. Sie näherten sich jetzt der Stelle, wo das Schiff unter den Anweisungen des Kapitäns mit dem Präzisionsmanöver beginnen würde, um in einem der schwierigsten und ungünstigsten Häfen der Ägäis anzulegen. Jeder Besucher ist bei seiner Ankunft in diesem Hafen von den gewaltigen schwarzen Felsmassen beeindruckt, die über ihm klaffen, als wollten sie ihn verschlingen. Einziger Ausweg eine gefährliche Straße, die sich, eingehauen in die abwechslungsreichen rotschwarzen Wände aus Vulkangestein, bergan schlängelt. Der Professor wohnte ganz auf der anderen Seite der Insel in der traditionellen Siedlung Ia, und Alexandros hatte nur zwei Möglichkeiten zur Auswahl, um dorthin zu gelangen. Es gab den Linienbus, der ihn zunächst in Fira, der Inselhauptstadt, absetzen würde. Von dort müsste er dann in den Bus nach Ia umsteigen. Die Alternative war, mit allen anderen verbliebenen Reisenden in der endlosen Schlange auf ein freies Taxi zu warten. Schließlich entschied er sich für den umständlichen Weg, die öffentlichen Verkehrsmittel auf der Insel zu benutzen.

      Die stark behaarte, verschwitze Achsel einer beleibten nordeuropäischen Touristin war nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Gleichzeitig musste er bei jeder Steilkurve mit seinem Körper die Pfunde einer übergewichtigen Griechin neben sich abfangen. Die Dame mittleren Alters unternahm löbliche Anstrengungen, sich an den abgenutzten Haltegriffen des Busses festzuhalten, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Das Martyrium dauerte etwa eine halbe Stunde. So lange, wie der Bus bei den häufigen Haltestellen brauchte, um seine Fahrt bis nach Fira zu Ende zu bringen.

      Bei der zweiten Strecke, von Fira nach Ia, hatte er mehr Glück. Er erwischte einen bequemen Fensterplatz auf der linken Busseite, der ihm eine gute Gelegenheit bot, sich wieder an die seltene Morphologie der Insel zu erinnern. Gerade auf dieser Strecke sind die Gesteinswechsel beeindruckend. Das ist schon für den einfachen Betrachter