Giorgos Koukoulas

Atlantis wird nie untergehen


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Einheimische, besonders diejenigen, die im Tourismus arbeiten und die Insel gleich nach dem Ende der Sommersaison verlassen, um selbst in den eigenen Urlaub zu starten, gewöhnlich zu entfernten, tropischen und sündhaft teuren Reisezielen, wo der Sommer gerade beginnt.

      „Sind wir bald da?“ Das war der erste Satz aus Alexandros’ Mund.

      Der weiße Wagen näherte sich dem Dorf Akrotiri. Seine Geduld, die dank seines ruhigen Wesens normalerweise unerschöpflich war, wurde auf eine Zerreißprobe gestellt. Der Professor lächelte und nickte; er konnte die Erschöpfung seines Mitreisenden gut verstehen.

      „Da wären wir!“, antwortete er gleich darauf.

      Sie parkten vor einem der traditionellen weißen Kykladenhäuser mit ihren typischen gewölbten Dächern und den blauen, quadratischen Holzfenstern in den Wänden. Als sie auf die Hoftür zugingen, streckte der Professor gebieterisch seinen Arm aus und versperrte ihm den Weg.

      „Alexandros, ich möchte, dass du bei dem Hausbesitzer mit deinen Äußerungen sehr vorsichtig bist.“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. „Wie du sehr gut weißt, hat ein Eigentümer mit ernsthaften Schwierigkeiten zu rechnen, wenn auf seinem Grundstück und in seinem Haus archäologische Funde gemacht werden. Er läuft Gefahr, dass er seinen Besitz verliert oder dass dieser im günstigsten Fall bedeutend an Wert einbüßt“, setzte er seine Erklärungen fort, wobei er gleichzeitig rasche Blicke um sich warf, weil er offensichtlich mit dem Erscheinen des Hausbesitzers rechnete. „Alles begann mit ein paar Geschichten, die ich im vergangenen Februar zufällig in einem Kaffeehaus in der Nähe gehört habe. Es hat mich einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, bis mir dieser Santoriner die Tür zu seinem Haus, genauer gesagt, zu den Kellerräumen geöffnet hat.“ Er hielt inne und schaute seinen Schüler mit verschwörerischer Miene an. „Und ich habe mich nicht auf Worte beschränkt, um das zu erreichen“, fügte er hinzu und rieb mit erhobener Hand drei Finger aneinander, um so die Zahlung eines beträchtlichen Geldbetrags anzudeuten.

      „Keine Sorge, Professor, ich werde schon aufpassen. Aber jetzt kann ich es bald nicht mehr aushalten. Können Sie mir nicht wenigstens einen kleinen Hinweis geben, um was es hier geht?“ Seine Neugierde hatte ihren Höhepunkt erreicht, und die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus. „Was gibt es in diesem Keller zu sehen? Was kann denn so wichtig sein?“ Er neigte sich zu ihm und ermunterte ihn mit seinem Blick, mehr zu sagen. Aber der Professor trat zurück und sagte laut:

      „Ein neuer Stein von Rosette, mein Lieber!“ Sein Gesicht strahlte. So hatte Alexandros ihn noch nie erlebt, weder in den Hunderten von Vorlesungen, die er besucht, noch an den endlosen Abenden mit tiefgründigen Diskussionen, die er mit ihm verbracht hatte.

      „Ein neuer Stein von Rosette!“, wiederholte er jetzt auch mit lauter Stimme. Er war sich ohnehin sicher, dass der große schlanke Mann mittleren Alters mit den grau melierten Haaren, der auf sie zukam, um die Hoftür zu öffnen, keine Ahnung von der Bedeutung dieser Wörter haben dürfte.

      Im Jahre 1799 entdeckte ein französischer Offizier zufällig einen gemeißelten Stein in der Nähe einer Garnison im Norden der unterägyptischen Stadt Rosette. Eine steinerne Stele, die die Entzifferung der Hieroglyphen und den Schlüssel zur Erforschung der ägyptischen Zivilisation in sich barg. Auf dieser Tafel befanden sich Inschriften, die in drei Bereiche unterteilt waren. Die beiden ersten Abschnitte waren in unterschiedlichen Schriftformen der altägyptischen Sprache verfasst, die bis dato nicht entschlüsselt werden konnten. Der dritte Abschnitt war jedoch auf Griechisch. Darin stand ein Hinweis, dass es sich um ein Dekret des Ptolemaios, Herrscher über Ägypten, handelte, und zwar in drei Sprachen! Ein Stück Stein löste auf einen Schlag das Rätsel, das Archäologen, Sprachwissenschaftler und Historiker jahrhundertelang vergeblich zu entschlüsseln suchten.

      Alexandros machte sich innerlich auf das gefasst, was wohl als Nächstes kommen würde. Sollte es möglich sein, dass er vor einer so bedeutenden Entdeckung stand? Ein Augenblick, von dem die Archäologen ihr ganzes Leben lang träumen, den sie aber nur selten erleben dürfen? Vielleicht war sein geliebter Professor ja blind geworden vor lauter Eitelkeit und Leidenschaft, Chimären hinterherzujagen? Hatten ihn vielleicht die Jahre ständiger Suche und Forschung schließlich an den Rand des Wahnsinns getrieben? Schon in wenigen Minuten würden seine drängenden Fragen vielleicht auf die Realität prallen wie gewaltige Wellen, die auf Wellenbrecher treffen ...

      2. DREI STUNDEN ZUVOR …

      Und wieder bebte die Erde. Dieses Mal durch eine noch stärkere Explosion. In ihrer Todesangst bäumten sich die Pferde auf und wieherten laut. Die Vulkanasche fiel wie Schnee auf sie herab. Die Luft roch nach Tod.

      „Herr, die Pferde sind nicht mehr zu halten …” Die Stimme des schweißüberströmten Soldaten war nur noch ein Krächzen, unterbrochen von keuchendem Husten. Der seltsame schwarz-weiße Rauch bedeckte inzwischen die ganze Gegend.

      Der hochgewachsene, stattliche Offizier an der Spitze des Trupps warf einen forschenden Blick in die Umgebung. Beißender Schwefelgeruch drang ihm in die Nase. Er wusste, dass seine Soldaten und wohl auch die Pferde ebenso unter Kopfschmerzen und Übelkeit litten wie er. Alles geschah so schnell, dass er gar nicht dazu kam, sich zu fürchten oder zu begreifen, mit welchen Mächten sie es zu tun hatten. Waren die Menschen zu völliger Bedeutungslosigkeit verurteilt? Mussten sie sich endgültig dem unbegreiflichen Willen der Natur unterwerfen? Rasch wägte er die Lage ab. Es war ihm klar, dass sie ihren Auftrag unmöglich erfüllen konnten. Die Ladung würde ihren Bestimmungsort nie erreichen. Der Soldat hatte recht.

      „Spannt die Pferde aus und bringt die Tafeln in die Höhle dort rechts.” Als Anführer der Gruppe musste er sofortige, durchgreifende Entscheidungen treffen. „Es hat keinen Sinn. Mit der ganzen Last der Tafeln schaffen wir es nie rechtzeitig bis zum Hafen von Akrotiri“, fügte er laut mit fester Stimme hinzu.

      Er hatte sich bemüht, dem Befehl des Königs Folge zu leisten und das wertvollste und bedeutendste Schriftgut aus der Hauptbibliothek des Palastes vor der Zerstörung zu bewahren. Doch der zweite Teil des Befehls erschien ihm ungleich wichtiger. Die Vorstellung, dass ihn die Prinzessin verzweifelt im Hafen erwartete, verbot ihm jeden Gedanken an weitere Versuche, die Schrifttafeln zu retten.

      „Wenn sich Mutter Erde wieder beruhigt hat, kommen wir zurück, um die Tafeln in Sicherheit zu bringen.“

      Das sagte er nur, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen. Die sechs verbliebenen Soldaten beachteten seine Worte gar nicht. Erleichtert hatten sie schon damit begonnen, den Ballast in die Höhle zu verfrachten. Ihr Überlebenswille war schließlich genauso stark wie jener der Tiere. Vor einigen Stunden hatten die letzten Bilder von der Zerstörung der Stadt sie bis ins Mark erschüttert. Mut und Selbstvertrauen, Eigenschaften, die bei seinen Soldaten stets im Überfluss vorhanden waren, hatten sich in Luft aufgelöst.

      „Stapelt die Tafeln zu gleichen Teilen in den drei Höhlenöffnungen.” Es war ein letzter Versuch des Offiziers, die Aussichten für die Rettung der Schriften zu erhöhen.

      In der letzten Woche waren fast alle Bewohner von Strongyle zu den Küstenhäfen geflohen, um sich von dort aus auf den nächstgelegenen Inseln in Sicherheit zu bringen. Doch wahrscheinlich war der Beschluss zur Räumung der Insel zu spät gekommen. Die wichtigsten Hafenanlagen im Inneren der Insel waren zusammen mit einem großen Teil der Flotte gänzlich zerstört worden. Der Vulkan hatte ihnen keine Zeit gelassen, etwas zu unternehmen. Die Gestalt der Insel hatte die Zerstörungen noch begünstigt. Der Meeresring, der das Inselinnere umgab und dem das Gedeihen und die Sicherheit des Reiches hauptsächlich zu verdanken waren, hatte sich in eine tödliche Falle verwandelt. Der einzige Zugang zum offenen Meer war nicht groß genug, um einen Austausch mit kälterem Wasser zu erlauben und die Hitze innerhalb des Ringes zu senken. Das Brodeln des Meeres mit seinen rötlich und gelblich gefärbten Schaumkronen war das erste Anzeichen des nahenden Unheils gewesen. Wenige Minuten später waren bereits die meisten Schiffe gesunken und alle Hafenanlagen zerstört. Im kochenden Meer, das die Fische tot an Land spülte, hatten auch die Schiffe kein besseres Schicksal zu erwarten. Auf der gesamten Oberfläche des Meeresrings brannte das Wasser wie Öl im Feuer. Die Schiffsrümpfe barsten auseinander