Giorgos Koukoulas

Atlantis wird nie untergehen


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den Menschen nicht ihresgleichen hatte, befand sich am Rande ihres Untergangs.

      Doch er blieb an seinem Platz, standhaft wie ein Fels in der Brandung, als alle anderen die Hauptstadt des Reiches bereits verlassen hatten. Selbstbeherrschung und Würde kennzeichneten jede seiner Handlungen und waren ein Ansporn für alle, die unter seinem Befehl standen, es ihm gleichzutun. Seit Tagen leitete er unermüdlich nach der bestmöglichen Vorgehensweise die Räumung der heimgesuchten Insel. Wenige treue Offiziere und Adlige waren zusammen mit der Elitegarde des Palastes an seiner Seite geblieben. Er wandte sich an Andrion.

      „Unter den Schriften sind auch Tafeln, die dein Freund Sonchis, der ägyptische Priester, übersetzt hat, um sie mit in seine Heimatstadt Sais zu nehmen. Da er bereits unterwegs ist, sorge dafür, dass sie nach Knossos gelangen und von dort aus in sein Land weitergesandt werden. Das Wissen muss um jeden Preis gerettet und überall verbreitet werden.“

      Selbst in den letzten Stunden war das Denken dieses großen Königs von edlen Idealen durchdrungen, voller Uneigennützigkeit und Weisheit. Es lag ihm vor allem an dem kulturellen Erbe, das seine Stadt als Vermächtnis hinterlassen würde. Er fasste Andrion am Arm und zog ihn etwas abseits hinter eine purpurrote Säule, deren Kapitell zwar Risse aufwies, die aber im Gegensatz zu den meisten anderen im Palast noch nicht eingestürzt war. Seine Miene wurde weicher, als er seinem treuen General einen weiteren Auftrag anvertraute:

      „Astarte erwartet dich im Hafen von Akrotiri. Ich habe ihr die ausdrückliche Anweisung gegeben, dass sie nur mit dir gemeinsam auf ein Schiff geht.” Seine Stimme verriet trotz ihres harten Klangs eine starke Bewegtheit.

      Während er ihm zuhörte, wanderte Andrions Blick über das farbenfrohe Wandgemälde hinter seinem Gegenüber. Der gesamte Palast war mit Wandmalereien ausgeschmückt, deren Gestaltung von der Bedeutung und der Nutzung der einzelnen Räume abhing. Hier zeigte es junge Mädchen bei einer religiösen Prozession. Sie trugen offene Mieder, die die Brust unbedeckt ließen, und lange Röcke aus dreieckigen Stoffbahnen. Ihr dunkles Haar war sorgfältig gekämmt und mit Perlenschnüren hochgesteckt. Von Osten fiel aus einem Lichtschacht ein Bündel Sonnenstrahlen auf das Gesicht des mittleren Mädchens. An dieser Stelle hatte das Bild durch das jüngste Erdbeben einen Riss bekommen, der den Kopf der jungen Frau in zwei Hälften teilte. Die Stimme des Minos von Strongyle holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

      „Es gibt Zeiten, in denen die Götter uns keinen anderen Trost lassen als die Weiterführung unseres Geschlechts.“ Eine Träne rann über das von Schlaflosigkeit und Sorgen gezeichnete Gesicht. „Enttäusche deinen König nicht bei diesem letzten Befehl, der auch gleichzeitig seine letzte Bitte an dich ist.“

      „Aber was wird aus Euch …? Wir haben nicht mehr viel Zeit, Majestät … Ihr müsst mit uns kommen.” Mit der angemessenen Ehrerbietung, aber dennoch mit verzweifeltem Nachdruck versuchte er vergebens, seinen Herrscher zu überzeugen. Dieser überging seine Bitte.

      „Andrion, ich weiß, dass nur du meine Tochter schützen kannst … Mögen die Götter mit euch sein.“

      Mit schnellen Schritten entfernte er sich von seinem getreuen General und blieb in der Mitte des eindrucksvollen Sitzungssaals stehen, der einst voller Leben und Glanz gewesen war. Er breitete die Arme aus, als wollte er sein ganzes Königreich umarmen, und rief:

      „Vorwärts, macht euch jetzt auf den Weg!” Er wusste, dass die Zeit knapp war. Kurz hielt er inne, wie um dem Widerhall seiner Worte nachzulauschen. Dann fuhr er mit donnernder Stimme fort: „Dies ist ein Befehl eures Königs! Gehorcht ihm, mein geliebtes Volk, wie ihr es bis heute stets getan habt. Ihr seid aus dem Geschlecht der Atlanter, ihr Blut fließt in euren Adern. Erweist euch ihrer würdig und schöpft Mut aus ihrem Erbe.“ Am Ende des Satzes ließ er seine Arme kraftlos wieder sinken.

      Die in Reih und Glied stehenden Soldaten traten zwei Schritte zurück, machten kehrt und bewegten sich im Laufschritt zum Hauptausgang des Saales. Andrions Rückzug war zögernder. Er blieb stehen und sah seinen Herrscher an. Der stählerne Blick des Königs verriet eine solche Willenskraft, dass Andrion sich gezwungen sah, ihm zu gehorchen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Starke Empfindungen überfielen ihn, die er nie zuvor erlebt hatte. Am liebsten hätte er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen, sich auf den Boden geworfen und geweint, so laut er konnte. Seinen Vater hatte er kaum gekannt, doch es war ihm, als ob er sich heute zum letzten Mal von ihm verabschiedete. Es musste erst ein großes Unglück geschehen, damit ihm bewusst wurde, dass Minos Atlas in all diesen Jahren sein wahrer Vater gewesen war. Er blickte ihn ein letztes Mal an. Atlas nickte ihm mit einem traurigen Lächeln zu.

      Andrion wandte sich ab und begann mit aller Kraft zu laufen. Er war wie betäubt, und seine Beine erschienen ihm bleischwer. Unter Aufwendung seiner ganzen Selbstbeherrschung richtete er seine Sinne auf die geübten Muskeln seiner Beine, die ihn so schnell wie möglich weit fortbringen sollten. Rührseligkeit war eine Kraftverschwendung, die er sich jetzt noch weniger leisten konnte als je zuvor in seinem Leben. Die schmerzliche Pflicht befahl ihm, den Minos zu verlassen.

      In Windeseile hastete er die Stufen des zweiten Stockwerks hinunter und holte seine Soldaten ein. Innerhalb weniger Minuten befanden sie sich mit den beladenen Wagen am Südausgang des Palastes. Er warf einen verstohlenen Blick hinter sich, nach oben, wo er seinen König zurückgelassen hatte. Der Mittelpunkt des Hügels, auf dem der Palast lag, wurde vom Tempel des Poseidon beherrscht. In seinem hohen Dach, das außen gänzlich mit Gold überzogen und innen mit Elfenbein, Gold und Silber ausgekleidet war, klaffte ein breiter Spalt. Aus der Öffnung ragte das goldene Standbild des Gottes auf seinem Streitwagen mit den sechs geflügelten Rossen majestätisch und unversehrt hervor. Das riesige Abbild war umrahmt von hundert auf Delfinen reitenden Meeresnymphen, den Nereiden. Die ersten Beben hatten eine große Anzahl der Nereiden umgestürzt. Umfangreiche Schäden hatten auch mehrere goldene Götterbilder erlitten, die das Heiligtum zierten. Der Schutzgott der Stadt stand jedoch weiterhin unbeschädigt hoch auf seinem geflügelten Wagen und verbreitete Zuversicht unter den Gläubigen. Als wollte er dem Minos von Strongyle zur Seite stehen, der sich ebenso hochherzig weigerte, seine Stadt aufzugeben.

      „Treibt die Pferde an, doch verausgabt sie nicht bis zum Letzten.“ Andrion musste seine persönlichen Gefühle beiseiteschieben, um seinen Auftrag zu Ende zu führen. „Wir nehmen die Hauptstraße bis zur Südbrücke. Das ist auch der kürzeste Weg nach Akrotiri.“

      Nach den letzten Berichten waren drei von den vier Doppelbrücken, die das Innere der Insel mit dem breiteren äußeren Landstück verbanden, noch begehbar. Im Gegensatz zur Flotte, die sich nunmehr auf dem Grund des Meeresrings befand, hatten die Brücken standgehalten. Nur die westliche war bei einem starken Erdstoß gleich zu Beginn der Beben eingestürzt. Mit ihr wurden auch die gesamte Familie des Vetters und Beraters des Königs sowie die beiden jungen Priesteranwärter vom Haupttempel des Poseidon in die Tiefe gerissen. Sie waren die Ersten gewesen, denen die plötzliche Veränderung der Quellen an der Opferstätte aufgefallen war.

      Auf dem Gipfel des Hügels entsprangen am Standort des Tempels zwei Quellen, eine mit kaltem, die andere mit warmem Wasser. Der Überlieferung nach waren sie das Zeichen für die Anwesenheit des Gottes an diesem Ort. Vor zwei Wochen war aus beiden Quellen nur noch heißes Wasser gesprudelt. Dies war auch der Anlass für die Prophezeiung des Oberpriesters am Tempel gewesen.

      „Die Wagen halten nicht mehr lange stand.” Voller Besorgnis sprach der Soldat nach einer halben Wegstunde das aus, was Andrion bereits selbst befürchtet hatte, als er sah, wie schleppend sich die Wagen fortbewegten.

      Die Achsen zwischen den hölzernen Speichenrädern hingen gefährlich durch. Das Gewicht der Tontafeln brachte die Wagen, die ursprünglich nicht für das Befördern von Gütern gebaut waren, an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sie waren für ein Höchstgewicht von zwei Soldaten und für große Geschwindigkeiten auf dem Schlachtfeld bestimmt. Doch für die vollständige Räumung der Stadt war bereits jedes vorhandene Gefährt eingesetzt worden. Die Streitwagen der Palastgarde waren die einzige verbliebene, wenn auch nicht die geeignete Lösung.

      „Schnell, ladet von jedem Wagen die fünf obersten Tafeln ab“, lautete der klare Befehl Andrions. „Wir müssen das Gewicht auf den Wagen verringern.”

      Sie waren nur noch