Giorgos Koukoulas

Atlantis wird nie untergehen


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Archäologie an der Universität Bristol erhob die Stimme.

      „Im Gegensatz dazu sind wir bei der zweiten Tafel schon weitergekommen.“

      Nikodimos’ Miene hellte sich auf.

      „Was meinst du damit?“

      Er spürte die Aufregung des Professors und machte eine kleine sadistische Pause, bevor er fortfuhr.

      „Es ist ein offizielles Grußwort von jemandem mit Namen Minos Atlas an den Pharao Ahmose von Ägypten in der Stadt Avaris.“

      Für ein paar Momente herrschte Stille. Selbst Nikodimos, der eigentlich schlagfertig und durch seine Beschäftigung mit der Archäologie großartige Entdeckungen gewohnt war, nahm seine beschlagene Brille ab und war sprachlos. Als er sich von der Überraschung erholt hatte, sprang er von seinem Stuhl auf.

      „Das ist ja ... Die ersten Beweise, genau, wie ich es vermutet habe!“

      Alexandros versuchte, dem Gespräch zu folgen.

      „Erste Beweise für was?“

      Nikodimos lehnte sich nun mit dem Weinglas in der Hand bequem in seinen Regiestuhl zurück. Mit offensichtlicher Genugtuung begann er, seine Theorie zu erläutern. Er sprach Englisch, um von beiden verstanden zu werden.

      „Der Pharao Ahmose regierte zu Beginn des Neuen Reiches. Genauer gesagt, gehört er zur 18. Dynastie dieser Periode. In der Forschung wird seine Herrschaft etwas vage zwischen 1650 und 1550 v. Chr. angesiedelt.“

      „Das bedeutet?“ Alexandros stellte seine Frage aus Respekt vor dem englischen Kollegen auch auf Englisch.

      „Das bedeutet, dass uns die Tafeln in eine Zeit versetzen, auf die auch der große Vulkanausbruch von Santorin datiert wird. Und nicht nur das!“ Ein vorsichtiges Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Engländers neben ihm ab und zeigte, dass er im Gegensatz zu Alexandros begonnen hatte, sich dem Gedankengang des Professors anzuschließen. „Zunächst einmal bestätigt es die Theorie, dass sich der Name Minos nicht auf eine bestimmte reale Person bezieht wie in der Sage vom Minotauros, sondern einen Königstitel darstellt, wie der Thronname bei den ägyptischen Pharaonen. Die wichtigste Erkenntnis daraus ist jedoch, dass die Bezeichnung Minos Atlas eine Verbindung zwischen der Sage von Atlantis und Santorin, der minoischen Zeit und dem prähistorischen Ausbruch ihres Vulkans herstellt!“

      „Der Fund ist sicher sehr bedeutend, aber ich glaube nicht, dass man die Theorie allein damit zuverlässig untermauern kann.“ Alexandros war schon immer ein Skeptiker. Nie hatte er sich ohne ausreichende Beweise zu Theorien verleiten lassen. Vielleicht lag es an der Verbindung aus Wissen und Forschungsphilosophie, die er durch sein Physikstudium und seine intensive Beschäftigung mit der Astronomie erworben hatte. Es war außerdem auch eine der besonderen Fähigkeiten, durch die er sich beim Archäologiestudium immer hervorgetan hatte, und die Nikodimos an ihm schätzte.

      „Aber es sind ja nicht nur diese Angaben!“ Nikodimos war nun nicht mehr zu bremsen. „Auf der Tafel wird auch Avaris erwähnt, die Nachbarstadt von Sais. Versuch dich doch einmal ein wenig an unsere Seminare über Platon zu erinnern.“

      „Ja, natürlich, stimmt, Platons Dialoge Timaios und Kritias.“ Befriedigt und mit wiedergewonnenem Selbstbewusstsein zeigte der ehemalige Student, dass er dem Gespräch nun folgen konnte.

      „Genau, mein Lieber, in seinem Dialog Timaios erwähnt Platon, dass der Athener Gesetzgeber Solon ägyptische Priester in einem Tempel der Stadt Sais aufgesucht hatte. Dort enthüllten sie ihm die Existenz von Atlantis, einem Imperium zur Zeit von Solons Vorfahren. Dass es an Informationen über das Vorhandensein dieser Kultur mangelte, begründeten sie mit dem langen Zeitraum, der seitdem verstrichen war, aber auch mit zwischenzeitlichen Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen und Bränden.“

      Der Kellner unterbrach höflich das Gespräch und fragte am Tisch, ob sie noch etwas bestellen wollten. Die Runde schüttelte synchron den Kopf. Unbewusst hegte Alexandros weiterhin Zweifel an der Theorie. Fragend hob er die Augenbrauen.

      „Solon sagt aber auch, dass die Zivilisation von Atlantis nach Aussage der Priester vor etwa neuntausend Jahren ihre Blütezeit hatte.“

      Vor seiner Antwort nahm der Professor ohne Eile mit gemessenen Bewegungen einen Schluck von dem Weißwein, den er bestellt hatte.

      „Mein lieber Freund, wie ich in meinen Vorlesungen über die griechische Antike und die Weltgeschichte immer wieder betont habe, steckt in der Mythologie stets ein wahrer Kern. Die reale Geschichte verwandelte sich eben im Laufe der Zeit durch die Überlieferung von Mund zu Mund, denn es gab noch keine Möglichkeit, sie schriftlich festzuhalten, und so entwickelte sie sich zu einem Mythos. Neuntausend Jahre vor Solon lebte die Menschheit noch im Neolithikum. Alle Grabungsfunde aus dieser Zeit beschreiben eine primitive menschliche Spezies. Der einzige Hinweis auf eine Zivilisation waren nur ein paar Steinwerkzeuge. Es war die Zeit, als der Mensch gerade seine ersten Versuche unternahm, das Land zu bestellen und in begrenztem Maß primitive Siedlungen zu errichten. Kann es denn möglich sein, dass es damals eine technologisch so entwickelte Zivilisation gab, ohne dass wir einen einzigen Hinweis darauf haben?“

      Alexandros nickte. Langsam freundete er sich mit der Theorie des Professors an.

      „Ich stimme Ihrer Auffassung zu, Professor, aber wohin führt uns diese Annahme außer in eine Sackgasse?“

      Die Erklärung kam postwendend und mit Nachdruck. Nikodimos sprach laut und deutlich und unterbrach sich nur, wenn er einen Schluck Wein nahm.

      „Es gibt keine Sackgassen im ewigen Lauf der Geschichte. Im antiken Ägypten galt ein anderes Kalendersystem als in Griechenland. Es ist bekannt, dass die alten Ägypter keinen Zeitraum kannten, das heißt, sie hatten keine lineare Chronologie mit einem bestimmten Ausgangspunkt. Sie benannten die Ereignisse in Bezug auf das Jahr der Regentschaft des jeweiligen Pharaos. Das ist auch der Hauptgrund, warum es keine genaue Chronologie der Dynastien gibt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass bei der mündlichen Überlieferung der Atlantislegende irgendwo eine Null hinzugefügt wurde. Wenn wir diese Null wieder entfernen, machen wir eine kleine Zeitreise und landen dabei neunhundert Jahre vor Platons Schilderung. Wenn wir außerdem berücksichtigen, dass Solon ungefähr 600 v. Chr. nach Ägypten fuhr, und wenn wir das dann addieren ...“

      „Aber ja, ungefähr 1500 v. Chr. ... Ganz nah am Jahr des Vulkanausbruchs!“ Dieses Mal sprang Alexandros von seinem Sitz auf.

      „Ziehen wir vielleicht voreilige Schlüsse? Wir sollten besser nicht vorgreifen und lieber diese unerwartete archäologische Entdeckung ihren Gang gehen lassen.“ Der Dritte in der Runde unternahm einen Versuch, die Ereignisse objektiv zurechtzurücken. Auf die phlegmatische, ruhige Art, die englische Lehrkräfte gewöhnlich auszeichnet, fuhr er fort, seine vorsichtigen Überlegungen auszuführen. „Wir haben bereits zwei Tafeln und es sieht ganz so aus, als ob wir noch mehr finden werden. Tafeln mit wertvollem Material, das übersetzt und entschlüsselt werden will. Wir wollen uns doch nicht an diesem hoffnungsvollen Unternehmen mit unbegründeten und bisher unbewiesenen Theorien vergehen.“

      Das Statement von Dr. Howard Donaldson nahm der Diskussion ein wenig von ihrer Hitzigkeit. Die Freunde legten beim Schlagabtausch der Standpunkte eine kurze Pause ein. Alexandros beugte sich vor und bewunderte von oben die Landschaft, die sich zu ihren Füßen ausbreitete.

      Dem Vulkan gegenüber lag die Insel Thirasia. Santorin im Kleinformat. Mit den gleichen senkrecht abfallenden Felswänden zum Meeresbecken hin und der flachen Landschaft auf der Rückseite. Die Insel bildet eine natürliche Verlängerung der übrigen ringförmigen Caldera. Rechts von ihr weitet sich das Meer bis zur Westseite von Santorin, wo die Siedlung Ia liegt. Links von Thirasia ist die Meeresöffnung breiter und wird von der anderen Spitze Santorins begrenzt, die in den blendend weißen Häusern des Dorfes Akrotiri ausläuft. In der Mitte dieser Öffnung liegt eine unbewohnte kleine Insel mit dem Namen Aspronisi, so als wollte sich hier die Lücke schließen und das Rund des Vulkankraters wieder in seiner ursprünglichen Form herstellen. In der Mitte dieses Meeresbeckens haben die Lavamassen zwei kleine pechschwarze Inseln gebildet. Die riesenhaften Kreuzfahrtschiffe, die in der Caldera vor