Giorgos Koukoulas

Atlantis wird nie untergehen


Скачать книгу

üppiger Busen in einem offenherzigen Ausschnitt und zwei grüne Kulleraugen rundeten den verführerischen Anblick ab.

      Andrion hatte nie Hemmungen in Liebesdingen gehabt, zumal die Freizügigkeit auf diesem Gebiet einer der bestimmenden Werte ihrer Gesellschaft war. Er erklärte den Mädchen, er sei nicht in der Lage, sich für eine von ihnen zu entscheiden, da er sie beide gleichermaßen aufregend fände. Ihre verschmitzt lächelnden Gesichter gaben ihm die verblümte Antwort und boten auch gleichzeitig die Lösung seiner heiklen Lage an. Euterpe kam mit langsamen kleinen Schritten auf ihn zu und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Lippen sanft auf seinen Mund zu pressen. Gleichzeitig begab sich ihre große Schwester hinter seinen Rücken. Mit geschickten Bewegungen löste sie den weißen Mantel von seiner rechten Schulter, legte den Arm um ihn und streichelte seine nackte Brust. Wie gut, dass ihr Vater nicht vorzeitig zurückkam. Doch bestimmt hatte er seine Töchter schon lange nicht mehr so glücklich und einmütig gesehen, als er spät abends heimkehrte.

      Als er durch das Eingangstor des Palastes ritt, stellte Andrion fest, dass der einst so geschäftige, stets belebte Vorhof nun verödet war. Als er an den Außenanlagen mit den Lagerhäusern rechts und dem offenen Theater linkerhand vorbeikam, erhöhte er seine Geschwindigkeit. Eine vulkanische Gassäule hatte das Pflaster vor dem Theatereingang geschwärzt und in vier Teile gespalten. Der Anblick der vernachlässigten, von Unkraut überwucherten, einst kunstvoll angelegten Gärten rund um die Gebäude betrübte ihn. Die dichten Bäume und die bunten Blüten, die einst die Umgebung schmückten und nebenbei auch seine Liebesspiele mit den Mädchen des Hofes verborgen hatten, waren ihrem Schicksal überlassen worden. Ohne Pflege und Wasser - denn die letzten Erdbeben hatten die Bewässerungsanlagen zerstört - würden sie das gleiche Ende nehmen wie die Liebesbeziehungen, die am selben Ort aufgeblüht waren. Kurz darauf befand er sich im Haupthof vor den Marmorstufen, die zum Empfangssaal des Minos führten. Unter anderen Umständen hätte er bereits Dutzende von bekannten Adligen und Staatsdienern begrüßt, und die zahlreichen Wachen der Palastgarde hätten vor ihm salutiert. Sein heutiger Einzug erfolgte schweigend, und seine Begleitung bestand lediglich aus einem Rudel streunender Hunde. Er stieg die blütenweißen breiten Stufen hinauf und betrat die Vorhalle.

      „Komm rasch, Minos Atlas erwartet dich bereits voller Ungeduld.”

      Erymanthos, ein gebrechlicher kleiner Greis, der persönliche Berater und Freund des Königs, empfing ihn. Er hinkte ein wenig, sei es wegen einer früheren Verletzung, sei es aus Altersgründen, als er ihn ins Innere des Palastes führte, wobei er löbliche Anstrengungen unternahm, mit dem schnellen, ausladenden Gang des Generals Schritt zu halten. Als sie die Haupthalle durchquerten, knirschte der Sand, der von der Decke des oberen Stockwerks gerieselt war, laut unter ihren Füßen. Die vertraute Stimme des Minos hallte tief und fest im leeren Raum wider.

      „Endlich, ich fürchtete schon, du würdest nie eintreffen!”

      Er saß in ruhiger Haltung auf seinem Thron aus rotem Marmor. Vier eindrucksvolle Greife mit wallender Mähne zierten die Wände zu beiden Seiten, Fabeltiere mit Körper und Kopf eines Löwen und mit Adlerschwingen, die hoheitsvollen Häupter auf ihren König gerichtet. Die Decke der Halle ruhte auf zwei roten, sich verjüngenden Säulen mit viereckigen Sockeln. In den Ecken erhellten zwei auf hohen Porphyritblöcken befestigte Leuchten den Saal. Das flackernde Licht warf seinen zuckenden Widerschein auf die Greife. Ein plötzliches Aufleuchten ließ die Tiere lebendig wirken, als wollten sie sich geschmeidig aufrichten. Andrion trat näher an den König heran und erstattete Bericht über den Fortgang der ihm übertragenen Aufgaben.

      „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Durch die Aufsicht über das Einschiffen war für mich zwei Tage und Nächte an Schlaf nicht zu denken. Zum Glück ist mit den zusätzlichen Seglern, die uns die anderen Königreiche geschickt haben, die Verschickung der gesamten Bevölkerung möglich. Wir brauchen einfach mehr Zeit.“

      Der Minos von Strongyle erhob sich, die Hände auf die Armlehnen des Throns gestützt.

      „Ich war sicher, dass du es schaffen würdest. Jetzt aber habe ich einen neuen, noch wichtigeren Auftrag für dich. Der Fortbestand unserer Kultur und unserer Geschichte hängt davon ab.“

      „Zu Befehl, Majestät, ich höre.“

      Die Miene des Königs verhärtete sich, als er seine Anweisungen erläuterte. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt sprach er zu seinem General. Jedes einzelne Wort, das er aussprach, schmerzte ihn, doch er wusste, es war die Wahrheit, und er hatte keine andere Wahl.

      „Wir müssen die wichtigsten schriftlichen Aufzeichnungen aus der Palastbibliothek retten. Das Herzstück unserer Kultur ist in diesen Tafeln verewigt, und der Fortschritt der künftigen Geschlechter hängt von ihnen ab. Die Weissagung hat sich noch nicht erfüllt, doch ich weiß nicht, ob es in unserer Hand liegt sie aufzuhalten. Ich fürchte sehr, dass das Ende unserer Insel bevorsteht.“

      Andrion war bestürzt über die Mutlosigkeit seines Herrschers und versuchte, dessen Hoffnungen zu beleben. Heute erschien er ihm menschlicher denn je zuvor; streng, aber nicht so unbeugsam, wie er ihn die ganzen Jahre gekannt hatte.

      „Aber wir haben alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, um den Ort zu schützen. Unsere besten Soldaten bewachen Tag und Nacht alle Zugänge. Es ist unmöglich, dass sich die Prophezeiung erfüllt“, versicherte er ihm mit Nachdruck.

      Der Minos setzte sich wieder und strich ruhelos die Falten seines Überwurfs glatt. Er bewunderte die Selbstverleugnung und den Mut seines Offiziers. Doch er selbst ließ sich in Wort und Tat weiter von der Weisheit leiten, mit der er sein Volk bisher gelenkt hatte. Eine schwarze Wolke verdunkelte seinen Blick, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

      „Der Fortschritt durch unser großes Wissen und der Wohlstand machten uns überheblich gegenüber der Natur, junger Freund. Gib dich nicht der falschen Hoffnung hin, dass wir den Tod bezwingen und den Lauf der Zeit beherrschen können. Sie bestimmt über den Verfall jeglichen Lebens im Weltall.“ Er hielt inne und blickte ihm väterlich in die Augen. „Der Wert unserer Kultur liegt in der Zeit, die vergeht. Niemand hat die Macht, die Zeit anzuhalten. Wir können den Wettlauf mit dem Sand im Stundenglas der Ereignisse nicht gewinnen …“

      7. Die Begegnung

      Nach seinem anstrengenden ersten Tag gestern auf der Insel erwachte Alexandros frisch und ausgeruht. Als er am Abend zuvor in der Höhlenwohnung angekommen war, die Nikodimos in Ia auf Zeit gemietet hatte, war er nur noch ins Bett gefallen und eingeschlafen. Er hatte es nicht einmal geschafft, seinen Koffer zu öffnen. Nach den Entdeckungen, mit denen er direkt nach seiner Ankunft zu tun bekam, und den Strapazen der Reise war er in einen komaartigen Tiefschlaf gesunken.

      Es war Ende Juni. Schon seit dem frühen Morgen erwärmten Sonnenstrahlen die engen Gassen von Ia und begleiteten den Professor und seinen ehemaligen Studenten auf dem Bummel zu ihrem morgendlichen Kaffee. Schon bei seinen ersten Schritten durch die gepflasterten Dorfgassen lief Alexandros der Schweiß herunter. Er hatte sich für ein Hemd aus einem etwas dickeren Stoff entschieden, beinahe ein Winterhemd. Auf die hohen Temperaturen, denen sie ausgesetzt waren, sobald sie aus dem Haus traten, war er nicht vorbereitet. Er war mit den besonderen Eigenschaften, die die traditionellen Höhlenhäuser von Santorin auszeichnen, noch nicht vertraut.

      Diese Gebäude bilden die älteste und einfachste Hausform auf der Insel. Sie bestehen aus einem lang gestreckten Raum, der wie eine Höhle aus dem Felsen gehauen wird, mit einer kuppelförmigen Decke und einer schmalen Frontseite. Es ist überliefert, dass die ersten Höhlenhäuser von Schiffsbesatzungen gebaut wurden, die es, um zu überleben, trotzig mit den steilen, rauen Felsen aufnahmen. Diese eigenwillige Architektur bewirkt, dass sich in den Häusern das ganze Jahr über eine niedrige, beinahe konstante Temperatur um die 18 Grad Celsius hält, da die Höhlenwände die Wärme aufsaugen und dauerhaft dieses Gefühl von Kühle erzeugen.

      Ohne die besonderen Baumerkmale des Hauses zu kennen, hatte sich Alexandros von dem frischen Raumklima täuschen lassen, das im Zimmer herrschte. Zum Glück gab es zwischendurch auf der Strecke genügend schattige Stellen, und bis zu ihrem Ziel war es nicht weit. Der Professor führte ihn