Giorgos Koukoulas

Atlantis wird nie untergehen


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sein wollte, musste er einen Teil der wertvollen Schriften opfern. Gleich darauf lagen fünfzehn Tafeln am Rand der schwarzroten, gepflasterten Straße.

      „Weiter jetzt, wir haben keine Zeit“, befahl er ihnen.

      Unverzüglich, ohne eine Verschnaufpause nach dem eiligen Abladen der Tafeln, gehorchten die schwitzenden Soldaten den neuen Befehlen und formierten sich zur Weiterfahrt. Wenige Minuten später überquerten sie die erste Holzbrücke, die das Inselinnere mit dem vom Meer umgebenen Landring verband. Das Wasser um sie herum dampfte und brodelte. Es war noch immer mit dem rötlichen Schaum bedeckt, der einen unvorstellbaren Gestank verströmte. Sie trieben die Tiere an, um die wenigen Schritte auf festem Boden zurückzulegen, und kamen zur zweiten Brücke des südlichen Übergangs. Diese bogenförmige Brücke war, klug und wohldurchdacht, an einem Punkt gebaut, wo die Felswände auf der anderen Seite weniger schroff waren, denn der Großteil der Küste am äußeren Rand des Meeresrings bestand aus steilen Klippen. Am Ende der Brücke hatten geschickte Handwerker die Steigung verringert und den Zugang zum Außenrand der Insel mit seinen fruchtbaren Ebenen erleichtert.

      Andrion, der vorausgeritten war, hatte als Erster die Brücke überquert. Er wendete sein Pferd, um das Übersetzen des übrigen Zuges zu überwachen. Die Räder des zweiten Wagens waren eben auf festen Boden gelangt, als es geschah. Zuerst fingen alle Pferde gleichzeitig an zu wiehern und ihre Köpfe wie wild vor- und zurückzuwerfen. Die schreckensstarren Soldaten waren unfähig, sich zu rühren. Gleichzeitig war ein lang gezogenes dumpfes Grollen aus dem tiefsten Innern der Erde zu hören. Andrion konnte sich nur noch mit Mühe auf seinem hervorragend abgerichteten Rassepferd halten, während die Erde sich in einem entfesselten Auf und Ab bewegte, wie sie es in den Tagen zuvor noch nicht erlebt hatten. Das Grollen schwoll immer weiter an, inzwischen vermengt mit dem ohrenbetäubenden Donnern der herabstürzenden Felsbrocken.

      Von der gegenüberliegenden Seite ausgehend begann die Brücke Stück für Stück einzubrechen. Der dritte Wagen, der noch darauf fuhr, rollte zurück, während die angeschirrten Pferde verzweifelt versuchten, nach vorn zu galoppieren. Doch unter dem Gewicht der Ladung kippte der Wagen nach hinten, riss die verletzten Pferde steil in die Luft und wurde dann zusammen mit den Tieren vom Meer verschlungen. Die beiden letzten Fußsoldaten hatten ebenso wenig Glück wie der Wagenlenker. Der junge Infanterist jedoch, der dem zweiten Wagen gefolgt war, schaffte den Sprung und konnte sich an den abgesplitterten Balken, die aus dem Rand der eingestürzten Brücke ragten, festklammern. Das unaufhörliche Beben der Erde nahm weiter an Stärke zu. Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit glitt Andrion vom Pferd und stand mit einem Sprung auf der Straße. Wie ein Betrunkener hin- und herschwankend, näherte er sich der zerstörten Brücke. An ihrem Rand warf er sich bäuchlings zu Boden und streckte seine Arme dem dort hängenden Soldaten entgegen. Er zog ihn unter Aufbietung all seiner Kräfte hoch und versuchte gleichzeitig, sich den fortwährenden Erschütterungen entgegenzustemmen. Sein Blick fiel zwangsläufig auf die Hauptstadt von Strongyle auf dem gegenüberliegenden Ufer, und er erstarrte …

      Nichts war mit dem unfassbaren Geschehen zu vergleichen, das sich dort vor seinen Augen abspielte. Das gewaltige Poseidonstandbild war in der Mitte durchgebrochen, und die obere Hälfte begann mit verrückten Sprüngen den Hügel abwärts zu rasen. Jedes Mal, wenn sie mit Macht auf die bereits eingestürzten Gebäude prallte, wurden neue Goldsplitter in alle Richtungen geschleudert. Das runde, bis zur Unkenntlichkeit erbärmlich zugerichtete Gebilde, das einst die Krönung des Reiches gewesen war, machte einen letzten Satz und klatschte im Meeresring auf, wo es auf der Stelle versank. Der Palast hoch auf dem Hügel war eingestürzt. Eine braune Staubwolke stieg aus den Trümmern auf und verbreitete sich durch die Luft. Alle Häuser und sonstigen Bauten der einst stolzen Stadt waren vom Gipfel bis zu den Ausläufern am Meeresufer dem Erdboden gleichgemacht und zu einer unförmigen Masse geworden.

      Die Schreie des Soldaten, der sich an seine Arme klammerte, brachten Andrion wieder zu sich. Er war vollkommen verschwitzt, und seine Hände waren glitschig, aber er schaffte es, ihn festzuhalten. Die Muskeln und Sehnen seiner kampferprobten Arme verkrampften sich bei dieser übermenschlichen Anstrengung. Er verlagerte seinen Schwerpunkt und begann, aus dem Kreuz heraus den Soldaten nach oben zu ziehen. Sobald die Erde sich etwas beruhigt hatte, spürte er, wie vier weitere Hände ihm zu Hilfe kamen und die Rettung vollendeten. Erschöpft schleppten sie sich in einige Entfernung von der zerstörten Brücke. Sie waren verzweifelt und entkräftet, doch sie waren am Leben. Andrion ließ sich auf die Erde fallen und fühlte, wie seine Arme von der Kraftanstrengung brannten. Fassungslos und entsetzt sahen er und seine verbliebenen Soldaten auf die Trümmer ihrer Stadt, unfähig, die Größe der Verheerung zu ermessen.

      Die ersten Erdbeben vor zwei Wochen hatten allen Bewohnern Angst eingejagt. Die Entscheidung, die Insel zu räumen, war nach lebhaften Auseinandersetzungen unter den Adligen der Stadt gefasst worden. Zu Beginn der zweiten Woche, als es so aussah, als würde sich die Erde wieder beruhigen, waren die Bauhandwerker zurückgekehrt, um die Schäden zu beheben. Niemand hatte die jetzige Entwicklung voraussehen können. Selbst Andrion, der in Zusammenarbeit mit dem Minos von Strongyle und einer Reihe zuverlässiger Staatsdiener die Räumung geplant hatte, konnte ein solches Ausmaß dieser Heimsuchung nicht erahnen.

      Der Boden begann erneut zu zittern. Gegenüber, in der verwüsteten Stadt, züngelten hier und da Flammen aus der Tiefe der Erde auf. Weiße Gase schossen unter großem Druck ununterbrochen zwischen den Trümmern in die Höhe. Jede Gassäule brachte Asche mit sich, die, je nach der Stärke der Eruptionen, in unterschiedlicher Dichte und Geschwindigkeit niederfiel. Der beißende Geruch, der ihnen von Beginn ihres Weges an in der Nase gebrannt hatte, wurde plötzlich unerträglich.

      „Vorwärts, wir haben keine Zeit für Rührseligkeiten, unsere Kameraden betrauern wir später.” Seine Vorahnung warnte Andrion, dass all dies nur der Anfang war. „Zieht die Pferde mit den Wagen wieder auf den Weg und lasst uns weiterfahren, so schnell die Tiere es vermögen.“

      Die Soldaten, benommen und erschüttert, gehorchten ohne Widerspruch den Befehlen ihres Offiziers. Es war ihnen unmöglich, das verheerende Naturereignis, das sie in so kurzer Zeit ereilt hatte, zu begreifen und den ewigen Wechsel des Lebens von der Ordnung zum Chaos zu entschlüsseln. Die stark geschmälerte Staffel der Soldaten mit den beiden verbliebenen Wagen erinnerte eher an einen Trauerzug als an einen militärischen Trupp im Einsatz: gesenkte Köpfe, schleppende Schritte und ein unheimliches, bedrücktes Schweigen, das nur durch das Krachen der immer stärker werdenden Explosionen unterbrochen wurde. Sie hatten Glück gehabt, und das erfüllte sie mit Schuldgefühlen. Vielleicht waren sie die letzten Überlebenden ihrer Stadt.

      5. Die Theorie

      Beim Anblick der blendend weißen Kykladenhäuser, die sich den steilen Abhang hinunterzogen, musste er die Augen zusammenkneifen. Was für eine einmalige Landschaft! So etwas konnte man nur auf Santorin bestaunen, am Rande der Caldera eines Vulkans, der mitten im Meer immer noch tätig ist.

      Alexandros drehte sich zu Howard um, der bereits mit seinen Ausführungen begonnen hatte.

      „Es ist mir noch nicht gelungen, die erste Tafel, die du mir als Foto gemailt hast, vollständig zu übersetzen.“ Der große schlanke Mann unterbrach sich, um etwas Tee aus einer weißen Porzellantasse zu nippen, und fuhr fort: „Diese Schreibweise ist schon seltsam. Sicher hat der Inhalt nichts mit Buchhaltung und Lagerlisten zu tun, wie es bei den meisten Linear-A-Tafeln der Fall ist, die bisher entdeckt wurden.“

      Der junge Archäologe hing seinen Gedanken nach. Einen Moment lang starrte er auf das Hosenbein der abgewetzten Cordhose seines Gesprächspartners, das ihm im Sitzen bis kurz unters Knie hochgerutscht war. Ein farbenfrohes, gepunktetes Oberhemd mit hohem Dreieckskragen, wie es in den 1960er-Jahren Mode war, rundete diesen Aufzug ab. Ein echter Stilmix in Sachen Bekleidung. Howard sprach weiter:

      „Es geht um eine Art Bekanntmachung oder um einen Orakelspruch, der aus drei Teilen besteht. Im ersten Abschnitt steht das Wort Tod. Ich denke, in ein bis zwei Tagen haben wir es dann komplett übersetzt.“

      Es war die Stunde des Sonnenuntergangs. Dort, wo sich der Himmel mit dem Meereshorizont vereinte, vollzog sich ein Farbenschauspiel in allen denkbaren Rottönen, als könnte sich der Himmel