Giorgos Koukoulas

Atlantis wird nie untergehen


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für Geologie, bei der er zum ersten Mal mit Santorin in Berührung gekommen war. Es kam ihm vor, als sei es erst gestern gewesen, dass er den detaillierten Analysen Afroditis lauschte, die damals kurz vor dem Studienabschluss stand. Sie erklärte ihm alles über die verschiedenen Sedimentschichten aus Asche und Lava, die die Insel seit dem letzten gewaltigen Vulkanausbruch bedecken. Jede Veränderung in den Farbnuancen der Felswände repräsentiert ein anderes Mineral und ein unterschiedliches Entstehungsdatum. Eine komplette historische Präzisionskarte mit den geologischen Fingerabdrücken der Gegend aus einer Zeit, die Jahrmillionen zurücklag. Er war überrascht, dass er sich nach so langer Zeit, wenn auch vage, an einige grundlegende Informationen erinnerte. Er mochte Afroditi zwar bei den endlosen Lektionen, die sie ihm an jeder Stelle der Insel erteilte, ständig angeschaut und an ihren Lippen gehangen haben, doch hatte er dem Sinn des Gesagten wenig Beachtung geschenkt. Immer neue Erinnerungssplitter blitzten in seinem Kopf auf.

      Was hatte diese wunderschöne junge Frau, die voller Leben steckte, nur an ihm gefunden? An einem jungen Studenten, damals bei seinem zweiten Diplom. Nicht sonderlich gut aussehend, mittelgroß, mit einem untrainierten, schlaffen Körper, ohne Berufsaussichten, mit finanziellen Engpässen. Eine geschmacklose, für sein Gesicht zu große Brille, war das Tüpfelchen auf dem i. Das war die brutale Antwort, die ihm sein Spiegelbild gab, das ihn jedes Mal aufs Neue anstarrte, egal wie viele Spiegel er ausprobierte, immer in der Hoffnung, einmal ein angenehmeres Gegenüber zu sehen.

      Afroditi – der Name des Mädchens deckte sich perfekt mit der Göttin Aphrodite. Dieser Gedanke überwältigte ihn im ersten Monat ihrer Bekanntschaft. Eine Schönheitsgöttin wie ihre Namensgeberin aus der Runde der zwölf Götter des Olymps, die mit jeder ihrer Bewegungen Weiblichkeit verströmte. Ein munteres Gesicht mit hellem Teint und zwei tiefblauen Augen, das er stundenlang betrachten konnte. Ein blühender, wohlgeformter Körper machte dieses Bild perfekt, nicht besonders groß, aber üppig und voller Verheißung. Was die Mythologie anging, wurde sie ihrem Namen vollkommen gerecht. Die Identifikation mit der Göttin erstreckte sich aber auch auf die Astronomie. Der einzige Planet mit weiblichem Namen in unserem Sonnensystem ist die Venus, der römische Name für Aphrodite. Es ist außerdem kein Zufall, dass es auch der einzige Planet ist, der sich gegenläufig zu den anderen bewegt und sich dabei selbst der Herrscherin, der Sonne, widersetzt. Genauso verhielt sich auch Afroditi. Immer kontra zu allen Konventionen und Benimmregeln. Immer vorne weg bei allem Neuen und immer aufmüpfig. Der Inbegriff der Auflehnung gegen das Establishment.

      Wo sie auch mitmachte, wo sie sich auch aufhielt, sie fiel auf. Es war unmöglich, sie nicht zu beachten. Mit ihrer Mischung aus Schönheit und einer starken, komplexen Persönlichkeit beherrschte sie jeden Raum. Genau wie der namensgleiche Planet. Schon in prähistorischen Zeiten hatten die Menschen bemerkt, dass die Venus das hellste Objekt am Nachthimmel war. Die alten Griechen nannten sie Morgenstern, also Vorbotin des Sonnenaufgangs. Am schönsten erschien sie aber als Abendstern, direkt nach Sonnenuntergang.

      Jahrzehntelang waren sich die Wissenschaftler uneins darin, was unterhalb der Wolkendecke existierte, die diesen mysteriösen Planeten umgab. Was für eine Art von Oberfläche würden wir darunter finden? Mit Feuereifer forschte auch Alexandros und versuchte zu entdecken, was sich hinter der faszinierenden, geheimnisvollen jungen Frau verbarg, mit der er das Glück hatte, zusammen zu sein. Nur hatte er dabei die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht bedacht. Moderne Weltraummessgeräte offenbarten eine Oberflächentemperatur von vierhundert Grad Celsius mit einem neunzigmal stärkeren Atmosphärendruck als dem auf der Erde. Ein heißer und ungastlicher Planet. Der Erde am nächsten gelegen und doch vielleicht am schwierigsten zu erreichen und zu besiedeln ...

      Alexandros’ umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der Astronomie waren nicht genug, um ihn von seinem Unternehmen abzuhalten. Er entschied sich dafür, die letzten Entdeckungen im Hinblick auf den Nachbarplaneten zu ignorieren. Wie ein unerfahrenes, ehrgeiziges, aber naives Forschungsraumschiff versuchte er, die Naturgesetze zu besiegen und im Herzen seiner Venus-Aphrodite zu landen. Doch das Ende ihrer Beziehung war bereits vorprogrammiert und zeichnete sich in vorangegangenen Forschungsmissionen ins All ab. Auf eine wunderbare Reise voll intensiver Erfahrungen bis an den Rand ihrer Atmosphäre folgte ein plötzlicher glühender Eintritt, der mit einem heftigen Aufprall endete. Der Versuch war fehlgeschlagen, ohne die Gelegenheit, wissenschaftliche Daten zu erheben, was die Zusammensetzung, die Morphologie und das Verhalten des Himmelskörpers betraf. Und natürlich gab es keinerlei Überlebenschancen für das Weltraumforschungsschiff, das vollständig zerschellte. Alexandros hatte sich nie von ihrer Trennung erholt.

      Der Professor war noch genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte, mit seinem unverkennbaren weißen Vollbart, von mittlerer Statur, pausbäckig und mit einem sympathischen runden Bäuchlein. Ein idealer Kandidat für die Rolle des Nikolaus bei jeder Weihnachtsfeier. Wenn man ihn aber etwas besser kennenlernte, offenbarten sich - trotz seines vorgerückten Alters - ein funkelnder Blick und ein ungewöhnlicher Tatendrang. Schon als er ihm zum ersten Mal an der Uni begegnet war, wirkte der Professor, als liefe er ständig auf Hochtouren. Man hatte den Eindruck, dass das Getriebe seines Gehirns unaufhörlich an einer neuen Idee oder Entdeckung arbeitete.

      Sie waren noch nicht dazu gekommen, sich eingehend zu unterhalten, da saßen sie auch schon in einem weißen VW-Käfer Cabrio auf dem Weg zur anderen Seite der Insel. Dem geliebten Auto des Professors, seiner ersten und ewigen Liebe, wie er bei jeder Gelegenheit und jedem Kompliment für den Wagen scherzend sagte. Es war vielleicht die einzige menschliche Schwäche, die Alexandros in der absoluten Hingabe des Professors an die archäologische Forschung ausgemacht hatte. Unter anderen Umständen hätte er sich wohl ziemlich geärgert, dass er die ganzen Strapazen auf sich genommen hatte, nach Ia zu gelangen, nur um dann sofort wieder den Rückweg anzutreten, genau dorthin zurück, von wo er aufgebrochen war. Doch die Freude über die erneute Begegnung mit seinem Professor besiegte, zusammen mit seiner nur mühsam gebändigten Neugier auf die Gründe für diese überraschende Reise, alle negativen Gefühle und die bisherigen Anstrengungen.

      Die Straße war ziemlich gefährlich und unübersichtlich. Das hielt ihn davon ab, ein ausführliches Gespräch über die Entdeckung zu beginnen, die ihn hier hergeführt hatte. Auf der Busfahrt hatte er deutlich weniger Angst gehabt und sich unbewusst auf den Fahrer und dessen Berufserfahrung verlassen. Ganz anders jetzt. Beim Anblick des alten Professors am Steuer des VW-Käfers, der sich der fabrikmäßigen Höchstgeschwindigkeit näherte, und des Abgrunds, der in jeder Steilkurve lauerte, verbot es sich von selbst, den Fahrer durch anspruchsvolle Gespräche abzulenken. Stattdessen begann er, eigene Vermutungen darüber anzustellen, wodurch es zu dieser Auffrischung ihres Kontaktes gekommen war.

      Durch seine Diplomarbeit wusste er sehr gut, dass sich Nikodimos vor allem für die minoische Zeit interessierte, und zwar insbesondere für die Unklarheiten und Wissenslücken im Hinblick auf diese wunderbare vorgeschichtliche Kultur im frühen Griechenland. Im Gegensatz zur ägyptischen Zivilisation, die ungefähr in demselben Zeitraum in ihrer Blüte stand, gibt es zur minoischen Epoche nur spärliche, eher unerhebliche Daten. Die Ägypter, die über Papyri und Hieroglyphenschrift verfügten, hinterließen ihren Nachfahren eine Fülle von Informationen und historischen Angaben über ihre Kultur. Die Morphologie und die geografische Lage der Region, wo Generationen von Pharaonen ihre Glanzzeit erlebten, begünstigten den Erhalt archäologischer Funde. Die wichtigste Rolle spielte dabei die ununterbrochene Kontinuität der ägyptischen Kultur von 3500 v. Chr. bis zur ptolemäischen Zeit 30 v. Chr. Die Minoer dagegen kannten als Hauptschriftsprachen die Linearschrift A und B und verwendeten keine Papyri. Deshalb - und wegen des rätselhaften Verschwindens ihrer Zivilisation – gehören sie bis heute zu einem der geheimnisvollsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Auf dem Höhepunkt ihrer Blüte, und während man im weiteren helladischen Raum nach ihresgleichen suchen konnte, wurde ihre Kultur zerstört und verschwand für immer. Sie hinterließ nur erstaunliche Einzelbeispiele ihrer Überlegenheit. Der Schleier des Geheimnisses über der ersten glanzvollen Kultur, die sich in Europa entwickelte, war für den Professor die Quelle seiner Inspiration und Forschung. Nach Kreta liefert Santorin mit seinen archäologischen Funden den stärksten Beweis für die Existenz und die beste Möglichkeit zur Erforschung dieser glanzvollen Kultur.

      Nikodimos glaubte, dass es auf Thera – so der offizielle Name der Insel – noch viel über die Minoer zu entdecken gab. Er war schon