Evelyne Quadrelli

Alma


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das Dorf, in dem Alma wohnte, strömten herbei, um sich am Dorfbrunnen zu versammeln und sich von dort auf den Weg nach Meierhof zu machen. Unter all diesen Kindern befanden sich alleine elf von der Familie Alig, und jedes Jahr schien ein weiterer Alig den Schulweg anzutreten.

      Es war Anfang Mai, und die Sonne war noch nicht hinter den hohen Bergen hervorgekommen, die in Almas Heimat rundherum zu erblicken waren. Der Schnee im Dorf war erst seit Kurzem fort. Die Bergspitzen jedoch waren immer noch in das herrliche Weiß des Schnees gehüllt. Die Straße nach Meierhof war ungeteert, und die Kinder brauchten nur ab und zu einem Pferdewagen oder selten einmal einem Traktor Platz zu machen.

      Der Schulhof war karg gestaltet. Es gab keine Spielgeräte, nur einen kleinen Brunnen und ein paar Steine, auf die man sich setzen konnte.

      Punkt acht Uhr stand Frau Cavegn auf dem Hof und läutete mit einer Glocke. Es war Zeit für den Unterricht. Frau Cavegn unterrichtete die erste, zweite und die dritte Klasse und legte Wert auf eine saubere Erscheinung der Schüler. Sie ließ es sich nicht nehmen, am Türrahmen zu stehen und nach Schmutzfinken Ausschau zu halten. Auf die Kinder der Bauersleute hatte sie es am meisten abgesehen, kam es doch öfter vor, dass ein Bauernkind noch die Schuhe voller Kuhmist hatte.

      Alma und Bruno gingen in das Schulzimmer, in dem die vierte bis sechste Klasse unterrichtet wurde. Die Lehrerin der Zwillinge war Frau Cavegn. Peter stieg die Treppe hinauf zum Dachgeschoss, wo sich das Klassenzimmer der Oberstufenschüler befand. Es gab nicht viele Schüler, die die Oberstufe besuchten. Schon gar keine Mädchen. Viele der Bauersleute erachteten es als Zeitverschwendung, ihre Mädchen länger als nötig in die Schule zu schicken. Lieber ließen sie ihre Töchter in eine Stellung gehen, um Praktisches fürs Leben zu lernen und etwas Geld zu verdienen.

      Der Klassenraum von Alma war ein geräumiges Zimmer, das im Winter nicht beheizt wurde. Mehrere Schulbänke aus Holz mit unzähligen Kerben und Kratzern und einfache Stühle standen darin. Nicht genug, damit jedes Kind bequem Platz fand, und so mussten alle dicht gedrängt zu zweit oder gar zu dritt an einer Bank sitzen. Außer einer großen Wandtafel, die reparaturbedürftig war, und einem mächtigen Lehrerpult gab es keine weiteren Einrichtungsgegenstände.

      Am Pult saß, wenn er nicht gerade mit dem Lineal bewaffnet seine Runden in der Klasse drehte, Herr Casanova. Er war ein gefürchteter Lehrer und führte seine Klasse mit eiserner Hand. Herr Casanova war etwa fünfzig Jahre alt und hatte schütteres, helles Haar. Auf der Nase, die dick und groß war, trug er eine Brille mit schwarzem Rand. Er war von kleiner Statur und trug immer ein grau meliertes Sakko, das ihm über die schmächtigen Schultern hing und vermutlich vor vielen Jahren einmal modern gewesen war. An Herrn Casanova aber, der einen Buckel hatte, sah das Kleidungsstück komisch aus.

      »Die Kleinen nehmen das Rechnungsbuch hervor und arbeiten auf Seite 32«, befahl er. Kein Schüler wagte es noch, zu schwatzen. »Die vierte Klasse kommt nach vorne und sagt das Gedicht auf«, verkündete er weiter, erhob sich und nahm die Rute zur Hand, die hinter seinem Schreibtisch stand. Jeder wusste, was es geschlagen hatte, konnte man doch wieder diesen seltsamen Glanz in den Augen des Lehrers sehen.

      Sechs Kinder, alle so alt wie Alma, traten vor den Lehrer, der gespannt auf seinem Pult saß.

      »Zuerst du, Kurt«, sagte Herr Casanova und zeigte mit der Rute auf den Bauernsohn. Dieser musste erst leer schlucken, um den Klumpen in seinem Hals runterzubringen, der sich gebildet hatte.

      »Der Tag brach an und das Licht, es schien …«, begann Kurt, und der Lehrer hörte aufmerksam zu, um einen Fehler sofort zu erkennen.

      Kurt hatte Glück, Herr Casanova konnte an seiner Darbietung nichts aussetzen.

      Nun zeigte der Stock auf Maurus. Er war ein Junge der Familie Alig, die neben Alma in einem kleinen, etwas heruntergekommenen Haus lebten. Alma mochte Maurus sehr, und wenn es die Zeit zuließ, trafen sie sich oft, um zu spielen.

      Maurus war gleich groß wie Alma und hatte, wie alle Aligkinder, strohblondes Haar. Sein Vater besaß eine Schmiede, die mehr schlecht als recht ging, und so musste er, wenn es keine Aufträge gab, hin und wieder auf einem fremden Bauernhof arbeiten. Auf diese Weise gelang es ihm, doch noch genug Geld zu verdienen, um seine Familie satt zu kriegen. Er war ein lieber Mann, der Kinder über alles mochte. Zur Weihnachtszeit waren Herr Alig und Moritz oft in der Schreinerei anzutreffen, in der aber dann kein Kind Zutritt hatte. Die beiden Männer, die eine Freundschaft verband, fertigten aus Holz die wunderbarsten Spielzeuge an, damit sich die Kinder zu Weihnachten freuen konnten.

      Maurus sah den Lehrer mit seinen schönen braunen Augen an und Alma wusste sofort, dass ihr Freund keine Zeit gefunden hatte, das Gedicht zu lernen. Er musste bestimmt wieder bis spät abends seiner Mutter bei irgendwelchen Arbeiten helfen.

      »Der Morgen brach an und das Licht es ... es ...«, stotterte Maurus und wusste nicht mehr weiter.

      »Das reicht!«, schrie Herr Casanova. »Du hast deine Aufgabe nicht gemacht. Na warte, Bursche, das gibt eine saftige Strafe!« Sein Gesicht verfärbte sich rot vor Wut und Spucke sammelte sich in seinen Mundwinkeln wie bei einem tollwütigen Terrier.

      Maurus ahnte, was jetzt kam. Mit gesenktem Kopf streckte er tapfer seine beiden Hände aus. Kaum waren sie in Stellung, schlug der aufgebrachte Lehrer mit der Rute kräftig zu. Exakt fünf Schläge teilte Herr Casanova aus. Alma konnte sehen, wie die Haut an den Knöcheln ihres Freundes an einer Stelle aufsprang und blutete.

      Maurus verzog das Gesicht schmerzvoll und durfte an seinen Platz zurückkehren.

      Alma wurde wütend. Dieser blöde alte Buckelmann, dachte sie. Bestimmt hatte er wieder mit seiner Frau Streit und braucht uns Schüler als Blitzableiter.

      Der Lehrer hatte eine böse und gemeine Frau, die ihm hin und wieder die Leviten las. Einige wollten schon gesehen haben, wie Herr Casanova von seiner eigenen Ehefrau eine aufs Dach bekam. Allen Frust, den er so einstecken musste, gab er am nächsten Schultag an die Kinder weiter.

      Mit Wut im Bauch trug nun Alma das Gedicht kraftvoll vor. Es gelang ihr, fehlerfrei zu sprechen. Sie sah dem Lehrer trotzig in die Augen, der die Mundwinkel immer noch voller Spucke hatte.

      Als das Mädchen fertig war und Herr Casanova nichts auszusetzen hatte (was er wohl gerne gehabt hätte), schikanierte er die Klassen mit den üblich schweren Fragen. Willkürlich rief er ein Kind nach dem anderen auf und ließ es für die Antwort stramm neben dem Pult stehen. Jedem der Aufgerufenen rutschte das Herz in die Hose, und selbst nachdem die Frage richtig beantwortet worden war, beruhigte sich der Herzschlag nur langsam. So groß war die Angst der Schüler und Schülerinnen vor dem übel gelaunten Lehrer.

      »Wie hieß der Mann, der Zürich reformierte?«, wollte Casanova wissen. Er schaute in der Klasse umher, und jedes der Kinder versuchte, sich unmerklich so klein wie möglich zu machen, um ja nicht aufgerufen zu werden.

      »Ueli!«, blaffte der Lehrer und kam ein paar Schritte näher an den Tisch, an dem der Unglücksrabe saß. Dieser stand mit gesenktem Kopf, aber stramm, da. Ueli konnte jedoch keine Antwort auf die Frage geben, und schon sauste die Rute mit lautem Zischen auf das Pult. Dabei kippte das Tintenfass um und bekleckerte die Schulhefte des armen Jungen.

      Herr Casanova achtete nicht darauf und erhob den Stock erneut, um ihn sogleich über die Handknöchel des Buben fahren zu lassen. Ueli hatte bereits beide Hände ausgestreckt, da er wusste, dass es kein Entrinnen gab. Er schrie auf, was aber augenblicklich von wilden Beschimpfungen des Lehrers übertönt wurde.

      »Du Dummkopf! Aus dir wird niemals etwas werden. Geh und steck deinen Kopf in den Misthaufen deines Vaters, vielleicht bewirkt der Dung, dass dein Verstand wächst!«, beschimpfte Herr Casanova den Buben. Und wenn es nicht so tragisch wäre, würde man über den Ideenreichtum an Schimpfwörtern staunen, die dem Lehrer in solchen Momenten in den Sinn kamen.

      Endlich läutete draußen Frau Cavegn zur Mittagspause. Herr Casanova ließ die Schüler ziehen, wobei niemand beim Verlassen des Schulzimmers einen Mucks von sich gab.

      In einem Nebengebäude des Schulhaues wurde den hungrigen Kindern eine dünne Suppe in einen Blechnapf geschöpft und ein Stück Brot dazu geboten. An verschiedenen Tischen fanden alle Platz und