Evelyne Quadrelli

Alma


Скачать книгу

und einzelne Schüler rieben ihre Handrücken und bestrichen sie zur Linderung der Schmerzen mit Spucke.

      »So einen Anfall wie heute hatte der Bucklige schon lange nicht mehr«, flüsterte Maurus Alma zu, die neben ihm am Tisch saß und bereits ihren letzten Bissen Brot verschlang.

      »Was glaubst du, musste er sich wohl gestern Abend von seiner Alten anhören. Von irgendwoher muss er ja seinen übergroßen Wortschatz mit Schimpfwörtern haben«, meinte Alma, und ein schadenfrohes Lächeln huschte über ihre Lippen.

      Beide Kinder empfanden sowohl Abscheu wie auch Mitleid für ihren Lehrer.

      Nach dem Mittagessen durften die Schüler etwa zehn Minuten auf dem Schulhof spielen, bevor sie die letzten zwei Schulstunden in Angriff nahmen. Irgendwie überstand die Klasse von Herrn Casanova diese, ohne dass noch einmal die Rute geschwungen wurde. Anscheinend konnte sich der Lehrer für diesen Tag genug abreagieren, er gab sogar nur wenig Hausaufgaben auf.

      Um halb drei Uhr läutete Frau Cavegn die Glocke, und die Kinder machten sich auf den Weg nach Hause.

      Alma und Maurus ließen ihre Brüder und Schwestern ziehen und trödelten etwas im Dorf umher. Sie kamen am Dorfladen vorbei. Hier konnte man beinahe alles kaufen, was es zum täglichen Leben brauchte. Es gab Esswaren, Kochgeschirr, Toilettenartikel (sogar WC-Papier), den einen oder anderen Stoffballen, Mistgabeln und dergleichen, einige Bücher und Bier vom Fass. Was die Kinder jedoch interessierte, war die kleine Auslage direkt bei der Ladentheke. Dort gab es große Gläser, gefüllt mit unterschiedlichen Süßigkeiten. Gerne wollten die beiden sämtliche Lutscher und Bonbons durchprobieren und die verschiedenen Geschmacksrichtungen kosten. Leider gab es nur selten eine dieser Leckereien, denn Geld besaß weder Alma noch Maurus.

      »Komm, lass uns schnell reingehen«, drängte der Junge. »Ich möchte nur kurz das Auto anschauen.«

      Alma, die mit ihren Gedanken bei den Bonbons war, seufzte: »Erst letzte Woche hast du es bestaunt und es sieht ganz bestimmt noch genau gleich aus.«

      Maurus aber öffnete die Ladentüre und trat ein. Herr Schwarz stand hinter der Theke, füllte Mehl in Tüten ab und erwiderte mürrisch den Gruß der Kinder.

      Ohne zu zögern, lief der Junge zum Regal und blieb vor einem knallroten Blechauto stehen. Mit glänzenden Augen betrachtete er das Gefährt und träumte davon, wie es wäre, wenn er es besitzen würde.

      Herr Schwarz, ein argwöhnischer Mann mit Bierbauch, ließ die beiden nicht aus den Augen. Ständig befürchtete er, bestohlen zu werden. Sein Misstrauen galt vor allem den Kindern. Wusste er doch, dass die wenigsten von ihnen überhaupt ein paar Rappen in der Hosentasche hatten.

      »Was wollt ihr? Wenn ihr nichts kaufen wollt, geht nach Hause und verschwendet nicht meine Zeit«, rief er und kam sogleich hinter der Ladentheke hervor. Im selben Augenblick erklang die Türglocke und verkündete Kundschaft.

      Thomas und Gian traten ein, zwei ältere Jungs aus Meierhof. Schnurgerade liefen die beiden zum Ladentisch und grüßten Herrn Schwarz freundlich.

      Alma, die nichts Besonderes an dem roten Auto finden konnte, wurde neugierig und lenkte ihre Schritte ebenfalls zur Theke. Sie konnte sehen, wie Thomas und Gian einen Jutesack auf den Tresen luden und vor Glück strahlten.

      »Ihr seid aber fleißig«, säuselte der Ladenbesitzer. »Wie viele habt ihr denn dieses Mal erwischt?«

      »Es sind zwei Dutzend!«, erwiderte Thomas stolz und entleerte den Sack in eine Kiste, die Herr Schwarz schon bereitstellte. Zusammen begannen sie zu zählen. Alma stand nun so nahe, dass sie kleine dunkle Dinger erkennen konnte, die zum Teil mit Erde verschmutzt waren.

      »Exakt vierundzwanzig, Jungs«, ließ Herr Schwarz verlauten und öffnete die Ladenkasse. Er zählte 4,80 Franken daraus und überreichte die Münzen mit einem Augenzwinkern den beiden Buben. Diese nahmen das Geld und legten die 80 Rappen sogleich wieder auf die Theke. Dafür suchten sie sich die buntesten Bonbons aus einem Glas, was etwas Zeit brauchte.

      Alma nutzte die Gelegenheit, um in Augenschein zu nehmen, wofür Thomas und Gian bezahlt worden waren. In dem Behälter lagen Beinchen, aber von was, wusste das Mädchen nicht, und in die Kiste zu greifen, um es genauer zu sehen, getraute sie sich nicht.

      Herr Schwarz nahm in der Zwischenzeit ein kleines schäbiges Notizbuch hervor und trug fein säuberlich die Zahl der gelieferten Ware und den ausbezahlten Geldbetrag ein. Die Buben, die nun jeder sage und schreibe acht Bonbons in der hohlen Hand hielten, mussten in dem Büchlein mit ihrem Namen unterzeichnen, verabschiedeten sich und liefen zur Türe.

      Da Alma mehr über diesen Verkauf der Beinchen erfahren wollte, rannte sie den älteren Jungen hinterher. Maurus bemerkte das Verschwinden seiner Freundin nicht. Er hatte nur Augen für sein Traumauto.

      Die Buben teilten vor dem Laden ihren Verdienst auf. Ihre Backen waren dick von den Bonbons, die sie in den Mund gestopft hatten.

      »Hallo Thomas und Gian. Könnt ihr mir sagen, wofür ihr eben das Geld bekommen habt?«, fragte Alma keck.

      Die Jungs schauten sich an und erzählten stolz: »Wir haben Maulwürfe gefangen und ihnen die Vorderbeine abgeschnitten.«

      »Was? Wofür soll denn das gut sein?«, wollte sie nun wissen.

      »Es gibt viel zu viele von diesen kleinen Tierchen. Die Bauern beklagen sich ständig über die aufgeworfene Erde und dass sie Schäden an den Pflanzenwurzeln anrichten. Also bezahlt der Kanton Graubünden für jedes Paar Beine, das bei einer Sammelstelle abgegeben wird, fünfundzwanzig Rappen«, erzählte Thomas.

      »Zwanzig Rappen bekommt der Jäger und fünf Rappen derjenige, der die Vorderbeine in Empfang nimmt und die Abrechnung führt«, fügte Gian bei.

      Das fand Alma interessant! Die Buben verabschiedeten sich von ihr, wobei der Gruß unverständlich war, hatten die Jungs mindestens drei Bonbons auf einmal in ihre Münder gestopft.

      Alma ging um die Hausecke des Ladens und setzte sich auf der Rückseite auf die niedrige Mauer, die den Lagerplatz umschloss. Sie wollte nicht mehr zurück in das Geschäft und beschloss, draußen auf ihren Freund zu warten. Schließlich hatte sie jetzt etwas zum Nachdenken, denn sie fand, es wäre nicht schlecht, auch ein wenig Geld zu besitzen.

      Als sie still so dasaß und ihren Kopf mit den Händen stützte, hörte sie eine Türe knarren. Ohne lange zu überlegen, sprang das Mädchen von der Mauer, duckte sich und spähte durch ein Loch im Gemäuer zum Lagerplatz. Vorbei an zwei leeren Bierfässern konnte sie Herrn Schwarz erkennen, wie er die Kiste mit den Vorderbeinen der toten Maulwürfe in eine große Kartonkiste leerte. Dann vernahm sie, wie der Mann zu sich selber sprach: »Bah, ich muss das Zeug noch heute verbrennen, die stinken ja fürchterlich!« Und verschwand wieder in den Laden.

      Alma ging zurück, um die Ecke zum Ladeneingang, wo bereits ihr Freund stand und nach ihr Ausschau hielt.

      »Wo bist du gewesen?«, wollte Maurus wissen.

      Alma erzählte nichts von alledem, was sie erfahren hatte, und zusammen liefen sie heimwärts.

      Unterwegs zeigte Maurus Alma noch einmal seine nun aufgeschwollenen Handknöchel und wetterte über ihren Lehrer.

      »Ich denke, es wäre an der Zeit, dem Buckligen und seiner Frau einen Streich zu spielen«, fand Alma. Dieser Meinung war auch ihr Freund, und den Rest des Weges übertrafen sie sich mit Aufzählungen der fiesesten Streiche, die ihnen in den Sinn kamen.

      Zu Hause wartete auf beide noch Arbeit. Deswegen beschlossen sie, sich die Angelegenheit mit dem Lehrer nochmals gründlich durch den Kopf gehen zu lassen und sich nach getaner Arbeit beim Dorfbrunnen zu treffen. Vielleicht blieb ja etwas Zeit, um zu spielen.

      Dem war nicht so. Alma musste vor dem Abendessen noch mit dem Rest von der genaschten Schokolade zu der alten Josefina und sich bei ihr entschuldigen. Anschließend brummte ihr die Mutter einen Gang nach Meierhof auf, um einem Junggesellen mittleren Alters einen versprochenen Laib Brot zu bringen.

      Gegen halb sechs Uhr abends machte sich das Mädchen auf den Weg. Nicht lange, und sie klopfte