Rabea Blue

Saving Rapunzel


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      »Da sprechen Sie ein interessantes Thema an, Miss Willow. Es gibt einige seltsame Eigenschaften, die ihre Chefin aufweist, nicht wahr? Die Haare von Mrs. Hall beispielsweise. Die sind ungewöhnlich lang, oder nicht?«

      Die Zeugin nickte. »Das schon. Aber dafür kann sie ja nichts. Ich habe es selbst erlebt. Sie macht nichts anders als andere Frauen auch. Ihre Haare wachsen einfach ungewöhnlich schnell.«

      »Jane? Du bist dran.« Grob schubste die Erzieherin mit dem Doppelkinn das schmächtige Mädchen in Richtung Frisierstuhl. Herablassend sah der Mann daneben sie an. Auf seinem Rücken drückte sich ein Buckel durch das Hemd, was ihn klein wirken ließ. Als Jane auf den Sitz kletterte, legte er ihr einen Umhang um den Hals und fixierte ihn mit zwei Haarklammern.

      »Meine Güte. Deine Haare sehen schrecklich aus«, spottete er und strich mit den Fingern durch die nassen, blonden Strähnen. »Vollkommen verknotet.«

      Jane sah verlegen zu Boden. »Ich weiß. Aber sie sind so lang, dass ich sie kaum mehr kämmen kann. Wenn ich sie bloß öfter schneiden …«

      »Kommt gar nicht in Frage«, mischte sich sofort die Erzieherin ein. »Ihr alle kennt die Regeln des Kreises und somit auch die des Internats. Jeder muss sie befolgen. Nur ein Mal alle zwei Jahre die Haare schneiden, mehr nicht. Auch für dich gibt es keine Sonderwünsche.«

      Der Friseur drückte Janes Kopf in die Position, die er brauchte, und kämmte die Haare durch. Mit heftigen Schwüngen zerrte er den Kamm immer wieder durch die verhedderten Stellen. Jane versuchte, sich zusammenzureißen, doch sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.

      »Halte den Kopf gerade«, maulte der Mann und rückte ihr Gesicht an die Stelle zurück, an der er es haben wollte. »Bei allen werden nur die Spitzen geschnitten, auch bei dir. Wenn du deine Haare nicht pflegst wie vorgeschrieben, dann musst du da eben durch.«

      Mit geschlossenen Augen krallte sich das Mädchen in die Armlehnen des Stuhls. Mittlerweile rannen ihr die Tränen in Strömen die Wangen hinunter.

      »Wie kann das sein?«, fluchte der Friseur und ließ frustriert den Kamm sinken. Während bei den anderen Mädchen aus Janes Zimmer die Haare nur höchstens bis zu den Knien reichten, kräuselten sich ihre Haare auf dem Boden. Und das obwohl der Stuhl bis zum Anschlag nach oben gefahren war. »Noch nie habe ich so lange Haare gesehen. Und dann auch noch so dicht. Schon gar nicht bei einem jungen Mädchen. Wie alt ist sie? Zehn Jahre? Unfassbar. Da kann etwas nicht stimmen.«

      Janes Erzieherin kaute auf der Unterlippe. »Aber es darf nichts abgeschnitten werden. So ist die Regel.« Die beiden redeten über Jane, als säße sie nicht direkt vor ihnen.

      »Das weiß ich selbst«, blaffte der Bucklige. »Aber es heißt auch, dass die Haare vorzeigbar sein sollen. Und das ist bei dieser Göre definitiv nicht der Fall. Wenn ich nur die Knoten entferne, die ich nicht beseitigen konnte, wird es nicht auffallen. Die Haare machen auch so einen kräftigen Eindruck, das merkt niemand.«

      Wenig überzeugt zuckte die dicke Betreuerin mit den Schultern. »Wenn es sein muss. Aber ich werde alles leugnen, falls es doch auffliegt. Mit diesem Regelverstoß will ich nicht in Verbindung gebracht werden.«

      Endlich hatten die Qualen für Jane ein Ende. An ein paar Stellen schnitt der Friseur winzige Strähnen ab und machte sich anschließend an den Haarspitzen zu schaffen.

      »Überhaupt kein Spliss, bemerkenswert«, glaubte sie, ihn murmeln zu hören.

      »Vielleicht braucht sie beim Kämmen Unterstützung, damit solch ein Desaster nicht noch einmal vorkommt.«

      »Wir sollen ihr auch noch helfen? Die Mädchen sollen zur Selbstständigkeit in Sachen Schönheit und Haushalt erzogen werden. Was wird es wohl für einen Aufschrei geben, wenn wir wegen einer eine Ausnahme machen?«

      Der Mann mit der Schere zuckte mit den Schultern. »Dann muss wenigstens nicht mehr die Haarschneide-Regel gebrochen werden. Einen Tod müsst ihr so oder so sterben.«

      »Ich kann das übernehmen«, hörte Jane eine bekannte Stimme. Eine ältere Frau mit drahtiger Statur trat neben den Friseur. Es war Emma. Sie war die einzige Erzieherin in dem Internat des Alten Kreises, die nett zu Jane war. »Es wäre ja eine Schande, wenn wir einen Regelverstoß in Kauf nehmen müssten.« Verschwörerisch zwinkerte sie Jane im Spiegel zu.

      Tapfer lächelte Jane zurück. Sie wusste, dass selbst Emma nicht alle Knoten aus ihren langen Haaren bekommen konnte. Aber sie war ihr natürlich dankbar für das Angebot.

      Nach einer Weile zupfte der Friseur Jane den Umhang vom Hals.

      »Fertig«, verkündete die dicke Aufseherin. »Wenn du für heute schon mit deinen Aufgaben fertig bist, dann ab in euer Schlafzimmer. Wie immer hinsetzen. Und wehe, ich sehe einen von euch wieder den Rücken krumm halten. Dann gibt es zehn Schläge mit dem Rohrstock.«

      Jane konnte Emma nirgendwo entdecken. Normalerweise gab sie in solchen Situationen den Kolleginnen Kontra. Sie war die Dienstälteste im Internat und trotz ihrer schmächtigen Erscheinung hatten die anderen Erzieherinnen und Lehrerinnen Respekt vor ihr.

      Jane beeilte sich, den Raum zu verlassen. Rasch band sie sich die Haare zusammen, sodass sie nicht mehr auf dem Boden schleiften. Als sie den Schlafsaal betrat, huschten sämtliche Augenpaare zu ihr. Ihre Zimmerkameradinnen saßen allesamt stocksteif auf ihren Betten, die Beine in einem rechten Winkel stehend, die Handflächen auf den Knien. An ihrem Schlafplatz angelangt, tat Jane es ihnen nach. Erst letzte Woche hatte sie mit ansehen müssen, wie ein Mädchen wegen schlechter Körperhaltung mit dem Stock geprügelt wurde. Auf keinen Fall wollte sie heute noch einmal negativ auffallen. Ihre ungewöhnlichen Haare hatten für genügend Aufmerksamkeit gesorgt.

      Dabei blieb sie am liebsten unsichtbar.

       Kapitel Zwei

      »Darf ich für die Geschworenen einmal zusammenfassen: Mrs. Hall hat offenbar eine Art Gendefekt, der ihre Haare ungewöhnlich schnell wachsen lässt. Niemand kann sich das erklären. Und sie kann sich schlecht von Verhaltensweisen lossagen, die sie sich angewöhnt hat.«

      Barbara runzelte die Stirn. »Das habe ich nicht gesagt …«

      Miller unterbrach sie. »Aber insgesamt kann man sagen, dass sie eine typische Einzelgängerin ist.«

      »Dass sie alleine war, hatte sicherlich andere Gründe.« Der Blick von Barbara huschte zu Mr. Jones.

      »Sie hatte ihre Eigenarten, das können Sie nicht bestreiten, oder?«

      »Das schon. Aber wer hat die nicht?«

      »Was hatte die Angeklagte für absonderliche Eigenschaften?«, bohrte Miller nach.

      Schulterzuckend schnaubte Barbara. »Nichts, was wirklich gestört hätte«, erklärte sie dann. »Sie lüftete auffällig oft ihre Zimmer. Ich weiß nicht, ob es mit der Lage des Flügels zusammenhing, aber es wurde unglaublich schnell warm bei ihr. Selbst im Winter hatte sie teilweise eine ganze Stunde lang ihre Fenster auf Durchzug. Mich fröstelte es öfter, wenn ich in dieser Jahreszeit zu ihr kam. Doch ihr schienen niedrige Temperaturen nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil. Selbst dann lief sie in Sommerkleidern herum.«

      Miller ging gar nicht auf sie ein. »Sind Sie der Meinung, dass Jane Hall glücklich war?«

      Barbara zögerte. Krampfhaft versuchte sie, nicht zu ihrer Chefin zu sehen. »Das kann ich nicht beurteilen«, lenkte sie ein. »So lange kannte ich sie ja noch nicht. Abwechslungsreich war ihr Leben nicht, wenn ich das sagen darf. Sie verließ kaum das Haus, hatte keine sozialen Kontakte …«

      »Ja ja, schon gut«, wurde sie erneut von dem Anwalt unterbrochen. »Aber das meine ich nicht. Wenn Sie sagen müssten, was für eine Einstellung die Angeklagte gegenüber ihrem Ehemann hatte, was würden Sie dann antworten?«

      Die