Friedrich Wulf

Taten ohne Täter


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dass ich ihnen den Schlendrian ausgetrieben habe, das schreiben sie mir, zig sage ich dir - zig.“ Sein Zeigefinger verprügelte die Luft. Kein Verbogener bemerkt, dass er einer ist, auch das ist ein Glück unserer ewigen Selbsttäuschung; der Paranoide ist zu beneiden, er braucht kein Kino. Aber ich sagte. „Ja, sie erfinden sich ihr Leben zurecht.“ „Genau sie finden sich im Leben zurecht, weil ich ihnen die Faxen ausgetrieben habe, sonst hätten sie das Abi niemals geschafft und jetzt studieren sie sogar Mathe. Aber die Bande!“ Günthers Daumen wies über seine rechte Schulter in die Richtung des Klassenraums. „Vor allen Dingen deine Vier, -schrecklich! Seit einigen Tagen haben sie eine neue Macke, malen ein Fragezeichen in die Luft und raunzen im Chor. ‚Bei Donner, Witz oder beim Segen.‘ Kannst du mir mal sagen, was der Unsinn soll?“ Es war ein schönes Stück Arbeit, nur im Kopf zu grinsen.

      Natürlich wusste ich, was das bedeutete, schließlich, - den Unsinn hatte ich angeregt, sie hatten nur die ersten Zeilen abgewandelt. „Jedenfalls die Bande will einfach nicht einsehen...“ „Was gut ist für Erwachsene“, ergänzte ich. „Was gut ist für den Erfolg in der Schule und im Leben, das ist kein Schlecken von kandierten Äpfeln.“ „Nein, nur der Gehärtete und scharf Geschliffene kommt an, wenn es hart auf hart zugeht und so geht es nun mal zu da draußen, nicht wahr, früh übt sich der harte Hund.“ „Ja, genau, ja so ungefähr, aber seit wann denkst du...?“ „Ach Günther, du weißt doch, was Clausewitz bei Waterloo gesagt hat, nicht wahr?“ „Nun, was hat er gesagt?“ „Wer seinen Gegner vernichten will, der muss ihn zuerst studieren.“ „Ja, ja ich weiß, aber partnerschaftliche Anbiederung liegt mir nicht.“ „Schon wieder falsch, nicht nur Peitsche und Zuckerbrot. Zeig Ihnen die Nützlichkeit deines Unterrichts, wer für sich einen Nutzen sieht, der - Mensch Günther, das liegt doch auf der Hand: Die müssen ihren Nutzen sehen.“ „Ich unterrichte Mathematik.“ „Ja, stimmt - da hast du dann wohl wirklich ein Problem.“

      Zwei

      Als ich am frühen Nachmittag nach Haus kam, stand das Garagentor auf. Von dort konnte man zwar nicht ins Haus eindringen, aber trotzdem achtete ich immer darauf, das Tor abzuschließen. Mehr aus Gewohnheit, denn bewusster Entscheidung. Es gab dort nichts zu holen, ein altes Fahrrad, das Rennrad stand im Keller, auch keine abgegriffenen Pornohefte oder sonstige Peinlichkeiten. Nicht dass ich je daran gedacht hätte, jemand könnte sich für den Krempel in der Garage interessieren. Ich hatte schließlich nicht die Probleme des Kollegen Günther. Vergesslichkeit war menschlich, allzu menschlich.

      Aber es beunruhigte mich doch, dass ich das Tor nicht abgeschlossen hatte, ja, ich hatte es nicht einmal ganz zugeschoben. Einen Spaltbreit stand es offen, Platz genug, dass eine Katze hätte hinein schleichen oder eine Ratte hinein huschen können. Und wenn schon, dachte ich, schaute aber gründlich nach, ob etwas einen Spaziergang machte. Die Taschenlampe stand noch im Regal, es fehlte kein Werkzeug und mir glitt auch keine Ratte ins Hosenbein.

      Es war nichts gewesen als eine kleine Unkonzentriertheit, ohne jede Konsequenz.

      Nach wenigen Schritten hatte ich meinen Rhythmus gefunden und schwebte über den Asphalt. Mal links, mal rechts das Bein kräftig auszustrecken und abwechselnd den linken oder rechten Fuß vor den Körper zu stellen waren eins.

      Viele Gelegenheiten würde es nicht mehr geben, vielleicht war dies die letzte noch einmal loszurollen, bevor Laub, Feuchtigkeit und frühe Dunkelheit die Saison beendeten. Mit Blitz und Donner oder Regen war heute nicht mehr zu rechnen. Blitze kommen nicht aus heiterem Himmel.

      Ein warmer Wind hatte die regenglitschigen Vormittagsstraßen inzwischen gänzlich trocken geblasen. Der Boden durfte nicht schlüpfrig sein; Nässe war Gift beim Skaten, man verlor den Halt, nein, man hatte gar keinen Halt, sondern glitt immerzu weg nach links und rechts, bekam keinen Widerstand gegen die Rollen, und also keinen Schwung. Das war dann nur so ein Schleudern und Schlingern. Aber jetzt war es trocken. Ich hatte noch einmal in der Garage nachgesehen, bevor ich losgefahren war.

      Ein Kanaldeckel. Ich ziehe leicht die Beine an und schon fliege ich drüber, komme auf, der rechte Fuß landet leicht versetzt vor dem linken und beschleunige wieder: rechts, links, rechts, links, ich rolle, ich rolle, ich rolle... Und meine Gedanken rollten zurück in die Schule.

      „Hover through the fog and filthy air“, sagten die Hexen in Macbeth. Und mit den Hexenworten „Fair is foul, and foul is fair“ hatte Tanja die Vorstellung des Stücks begonnen und auch beendet. Dazwischen lag die nachdrückliche Aufforderung an die Kursmitglieder, Macbeth als Lektüre zu wählen.

      Sie schwärmte von unglaublichen Sachen, von Leidenschaften, Obsessionen und Abgründen größer als Hollywood. Das wäre ein ganz kolossaler Thriller: Auf Mord folge Mord und Totschlag, eine Welt aus den Fugen, Wahnsinn sei auch dabei, Drogen und Hexerei. Sei also auch was für Leute mit esoterischem Tiefsinn. Und Sprüche hätte der Shakespeare drauf, zynisch und gewetzt, besser als von Appelt und Schmidt zusammengenommen.

      Ich hatte, was ich für diesen Kurs wollte; zweitklassige Lektüre konnten meine Kollegen wählen. Diese Studierenden verdienten etwas wirklich Gutes, etwas Anspruchsvolles.

      Ich mag nicht, wenn Dinge von selbst geschehen, unkontrollierbar und rätselhaft. Wenn ich nicht lenkend ins Geschehen eingreifen kann wie ein Regisseur, dann werde ich unruhig und nervös. Unterricht muss sein wie ein Theaterstück, durchkonstruiert wie ein Kunstwerk mit steigender Spannung.

      Selbstverständlich, und im Übrigen auch zurecht, hätten meine Leute gemurrt, hätte ich ihnen den Macbeth einfach aufgeschwatzt. Erwachsene, die das Abitur nachholen wollen, sind in der Lage für sich selbst zu entscheiden.

      Natürlich wusste ich von Anfang an, dass sie Tanjas Vorschlag annehmen würden. Gegen ihre Argumente, gegen ihre spannende Darstellung der Tragödie und vor allen Dingen gegen ihren Willen würde niemand wagen aufzumucken, nicht einmal ihre Freunde Rick, Ben und Moni.

      Ich war mit ihnen hinunter auf den Schulhof gegangen und hörte im Weggehen, wie sie sich verabschiedeten: „When shall we four meet again?“

      Pass jetzt besser auf, sagte ich mir. Unter der Brücke am Bach war es häufig feucht, außerdem konnte man erst spät sehen, ob einem ein Fahrrad entgegenkam.

      Es war nicht ungewöhnlich, dass Kollegiatinnen schon mal die Gelegenheit ergriffen und über meine Glatze streichelten. „Wie ein warmer Lederball, irgendwie lebendig und pulsierend, wenn darunter ein Mann, also kein Lehrer steckte, würde ich sogar sagen gar nicht unerotisch, echt geil“, rief Heike den anderen in der Klasse zu. „Lass mich mal, ich will auch mal“, drängte Tanja sich heran. Wenn es passierte, war’s okay, aber nicht mit Ansage.

      Niemals hätte ich daran gedacht, dass meine glänzende Kuppel, die ich aus Überzeugung trage, mein Leben auf extremste Weise verändern könnte. Wer dächte je daran, dass der blanke Skalp Teil eines Spiels werden könnte, in dem es auf Leben und Tod ging?

      Ich will mich damit nicht brüsten, ich kann nur mutmaßen, weshalb das Verhältnis zu meinen Leuten immer so ungetrübt gut war. Ich vertraute ihnen, sie vertrauten mir. Ich war der Ansicht, ich bin wie sie und sie sind wie ich.

      Damals, in tiefer Nacht schwankten wir durch die engen Gassen jener Universitätsstadt mit Disney-Ruine am Hang für Amis und Japaner. Erhitzt und heiter hatten sie mich links und rechts untergehakt und Sonja sagte: „Theo, eigentlich bist du doch einer von uns.“ Das war vor zehn Jahren, aber ja, aber ja, ich bin wie ihr. Sind wir nicht alle aus Glut und Verstand?

      Wo ist man am glücklichsten? Dort, wo man sich sicher fühlt, dort, wo man die Dinge überschaut und versteht, dort, wo man die eigene Stärke fühlt, dort, wo die Gewissheiten wie von selbst aus dem Bewusstsein rollen. Ich hatte Erfahrungen gesammelt und Routinen entwickelt, in denen ich mich völlig sicher fühlte, ich konnte Menschen einschätzen, konnte mit Situationen umgehen, ja, konnte Situationen gestalten, wie ein Spielleiter Szenen auf der Bühne gestaltet. Ich hatte gelernt aufzubrausen wie ein Schauspieler, konnte mit den Studierenden schimpfen, ohne dabei auch nur einen Anflug von Ärger zu empfinden. Ich war mir sicher, nach Belieben durchschauen und lenken zu können. Aber das war nur der rationale Teil meines Vorurteils, daneben gab es den emotionalen. Ich konnte