Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


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erhalten.«

      »Deinem Bruder?«

      »Stiefbruder, oder so. Ich will ihn nicht mehr als Bruder betrachten. Er ist ein Freund.«

      »Warum nicht mehr als Bruder?«

      »Ach Mist.« Sie hätte sich beinahe in etwas hineingeredet.

      Dabei wollte sie nicht darüber reden. Ihr Herz schmerzte.

      »Was?«, er hielt mitten in seiner Bewegung inne und musterte sie. In diesem Moment spürte sie, wie sich ein Holzsplitter in ihren Finger bohrte und sie funkelte den blöden Holzbaum böse an, ehe sie an ihrem Finger umher fummelte und versuchte, den Splitter rauszukommen. Daniel erkannte ihre Zwickmühle und wollte ihr behilflich sein, doch sie schüttelte nur den Kopf und nahm ihren Finger kurzerhand in den Mund, ehe sie den kleinen Span zwischen den Zähnen spürte. Sie runzelte die Stirn, als sie merkte, dass Daniel sie eigenartig betrachtete. Sie betrachte ihren Finger, saugte kurz den letzten Blutstropfen weg und wischte ihn an einem Taschentuch trocken. Um wieder auf andere Gedanken zu kommen, erzählte sie kurz etwas von dem Brief.

      »Ach, du chattest?«, fragte er schließlich verwundert.

      »Ja. Wenn ich im Internet bin, lass ich das auch mitlaufen.«

      Sie erklärte ihm welches Portal.

      »Ja, und da hab ich mit ihm sehr lange geredet.«

      »Worüber?«

      »Über Jane Austen«, erzählte Lydia.

      »Die Schriftstellerin?«

      »Ja, genau«, sagte sie strahlend. »Kennst du ihre Bücher?«

      »Nein, eigentlich nicht. Ich hab ein paar Filme gesehen, aber mehr nicht«, meinte Daniel.

      »Steve hat sich die Bücher kürzlich alle durchgelesen und darüber haben wir uns unterhalten.«

      Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit und sagte dann: »Ich wollte dich gestern küssen.«

      »Ich weiß.« Sie mied seine Blicke, während sie es sagte.

      Beide knieten gerade am Boden und er zeichnete etwas auf ein Blatt, während sie alles fotografierte.

      »Oh. Was hättest du gemacht?«, wollte er wissen und sah ihr in die Augen.

      »Ich bin mir nicht sicher.« Er wartete. »Lass uns nichts überstürzen. Wenn wir uns küssen und das ändert dann alles, wäre es nicht gut. Wir arbeiten zusammen und haben viel Spaß. Aber wir sollten nichts eingehen, was vielleicht nicht lange halten würde. Ein Kuss kann so vieles ändern.« Sie sah, wie er traurig wurde.

      »Ich dachte, das da was wäre«, seufzte er.

      »Daniel, du bist ein wirklich lieber Freund. Sei mir nicht böse. Aber ich hab zu viel durchgemacht, und ich möchte noch keine Beziehung eingehen. Ich würde dich nur enttäuschen.« Er lächelte.

      »Was ist?«

      »So nett hat mir noch niemand einen Korb gegeben.«

      »Das war auch kein richtiger Korb. Ich mag dich, wirklich, sehr gerne. Aber wir beide sollten ehrlich sein und daran denken, dass du ja auch bald weiter ziehst. Und du kennst mich nicht gut genug«, sagte Lydia.

      »Das ist auch kein Kunststück. Du erzählst ja auch nichts von dir!«

      »Na gut. Du hast drei Fragen frei, du darfst alles fragen, was du willst.«

      Sie standen auf und machten eine Kaffeepause.

      »Da ich drei Fragen frei habe und ich alles fragen darf, was ich will, lautet meine erste Frage: Warum erzählst du nichts über deine Familie?«

      Sie trank etwas von der schwarzen Flüssigkeit und antwortete bedacht:

      »Weil es, ehrlich gesagt, wenig darüber zu erzählen gibt«, begann sie und riss kurz das Wesentliche an, aber nicht zu detailliert.

      Er machte große Augen.

      »Wow. Wie wurde dir das Herz gebrochen?«

      »Du stellst Fragen, die mich ja dazu bringen, weit auszuholen. Ich habe noch niemandem davon erzählt. Es wissen nur jene, die davon betroffen sind«, meinte sie bedächtig.

      »Okay.«

      Lydia ging auf und ab und überlegte, ob sie es ihm wirklich erzählen sollte. Er wirkte wirklich interessiert und sah sie neugierig an.

      »Also«, begann sie und holte Luft, »solange ist es noch gar nicht her. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass ich adoptiert bin, ich es aber erst kürzlich erfuhr.« Er nickte. »... und dann platze die Bombe und alles war in Scherben«, beendete sie ihre Erzählung, die sie mehr mitgenommen hatte, als gedacht.

      »Verstehe«, sagte er nachdenklich und fuhr sich mit der Hand durch seine dunklen Haare. Daniel hatte ein eher markantes Gesicht und sie sah, wie sich sein Unterkiefer anspannte.

      »Verstehst du nun, warum ich keine Beziehung will?«

      »Nein, eigentlich nicht. Klar, du bist enttäuscht. Aber du hast ihn nur zwei Tage, im Prinzip, gekannt. Du warst nur verknallt.«

      Lydia zuckte zusammen.

      »Wer weiß. Vielleicht ist es auch nur der Schock gewesen oder ich bin einfach nicht bereit für eine Beziehung. Ich bin ja auch erst 16!«

      »Mmh.« Er wollte seine dritte Frage für später aufheben.

      Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihr aus, ein Loch, welches ihr die Luft zu rauben schien.

      Nein, es war nicht wegen des Kusses. Sie wollte nie mehr das Spüren, was sie fühlte. Nie mehr diese unendliche Leere im Inneren wahrnehmen.

      Doch der Tag neigte sich dem Ende. Es war schon fast 19 Uhr, als sie endlich Feierabend machen konnte. So lange war sie noch nie dageblieben.

      »Ich begleite dich noch etwas«, schlug er vor. Sie gingen zusammen aus dem Gebäude.

      »Daniel, hör mal, was ich dir erzählt habe, geht keinem was an.«

      »Keine Sorge. Ich erzähl es niemandem.« Ihr Sommerkleid flatterte etwas im Wind. »Was ist eigentlich mit diesem Steve?«, war nun die dritte Frage.

      »Was soll mit ihm sein?«

      »Empfindest du was für ihn?« Sie schaute ihn an und ihr war unwohl. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und ihr Magen zog sich zusammen.

      »Nein.«

      »Wirklich?«

      »Wir sind miteinander aufgewachsen. Über 15 Jahre hab ich geglaubt, er sei mein Bruder. Was soll ich da anderes empfinden?«, erklärte sie sich.

      »Stimmt auch wieder und wenn es anders wäre, wäre es auch irgendwie eklig.«

      »Warum?«

      »Na ja, er ist ja eigentlich noch immer dein Bruder.«

      So hatte sie es noch nie gesehen. Klar, er war ja noch immer ihr Bruder - wenn auch nicht mehr Fleisch und Blut und auch nicht mehr so, wie sie dachte.

      »Lydia?«, sagte er nun sehr sanft.

      »Ja?«

      »Ich würde dich gerne küssen!« Daniel hielt ihren Blick fest, und seine blauen Augen schienen sie herausfordern zu wollen. Sollte sie ihn lassen? Einfach, um zu sehen, wie es ist und ob sie was fühlte?

      »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd.

      »Es ist nur ein Kuss. Er muss nichts weiter bedeuten«, hauchte er so leise, dass sie eine Gänsehaut bekam.

      »Für dich würde er etwas bedeuten. Und wenn die Gefühle, die du erhoffst, dann bei mir nicht vorhanden sind, könnten wir nicht mehr so unschuldig einkaufen gehen.«

      »Unschuldig?« Daniel schmunzelte und zog eine Augenbraue dabei hoch.

      »Ohne Hintergedanken.«

      Daniel