J. H. Praßl

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto


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      „Brauchst du noch etwas?“

      „Nein“, murmelte sie und schob die Hände in ihre Hosentaschen. Dann gab sie sich einen Ruck. „Was genau seid Ihr?“

      Seine linke Braue glitt kaum merklich nach oben. „Ich denke, es ist Zeit, die Höflichkeiten hinter uns zu lassen, Chara.“

      Oh nein! Er wollte … wollte er etwa? Sie würde ihn nie beim Namen nennen können.

      „Das kann ich nicht.“

      „Dann lerne es.“

      „Meine Frage …“, kam sie zum Thema zurück.

      Die Schatten unter Al’Jebals Augen vertieften sich. „Wer oder was ich bin, wirst du bei deiner Rückkehr erfahren.“

      „Wieso nicht jetzt?“

      „Weil du dann möglicherweise nicht zurückkehren wirst.“

      „Warum? Weil mir die Antworten nicht gefallen werden?“

      Er erwiderte nichts.

      „Was hilft es, wenn ich zurückkehre? Es reicht doch, wenn die Allianz ihre Verbündeten bekommt.“

      „Nicht wegen der Allianz. Meinetwegen sollst du zurückkommen.“

      Die Stimmung kippte. Hatte er gerade einen persönlichen Wunsch geäußert? War das ein neuer Trick, ein neuer Versuch der Manipulation?

      Chara erschauerte. Ein seltsames, namenloses Gefühl ergriff Besitz von ihr. Irgendetwas hing plötzlich zwischen ihnen. Wie ein feines Geflecht unsichtbarer Fasern sponn es sie ein, band sie unwiderruflich aneinander, hielt sie aber zugleich behutsam auf Distanz. Es war, als wäre das Band zwischen Namai und Hatschmaschin zerrissen, um aus den alten, abgenutzten Fäden ein neues zu weben. Oder war dieses Band immer schon dagewesen?

      „Ich muss morgen früh raus“, stammelte sie. „Hab noch viel zu tun.“

      „Ja.“

      Chara brachte ihren weichgekochten Körper unter Kontrolle und schaffte es in geradezu vorbildhaft aufrechtem Gang durch die Tür nach draußen. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, wandte sich ihr Al’Jebal noch einmal zu. „Gute Nacht, Chara. Ich wünsche dir gute Träume.“

      „Ich … dir auch.“ Fast hätte sie sich gleich darauf entschuldigt, so falsch und ungehörig war es, ihn auf diese Weise anzusprechen. Doch Al’Jebal sah sie an. Er sah sie an, als wollte er sie … berühren.

      Stattdessen verschwand er, und Chara war wieder allein.

      Ein Versprechen

      Ich bin ein Gesichtsloser, dessen Bestreben es ist, euch allen, die ihr Teil einer epochalen Veränderung seid, mit der Wahrheit zu konfrontieren. Dies ist der Beginn einer Suche. Und jedes Mitglied dieser Mission ist aufgerufen, an dieser Suche teilzunehmen.

      (LC, 1. Manifest, 2. Trideade im Drachenmond, 348 nGF)

      Die gigantische Felsengrotte, die in ihrem steinernen Schoß den Hafen Tamangs barg, war hell erleuchtet und voll von hektischem Leben. Matrosen verluden die letzten Fuhren Mannschaftsgepäck, Waffen, Rüstungen und Kriegsgerät, Proviant und Schiffsgut, Holz für die Reparaturarbeiten, die unterschiedlichsten Metalle für die Herstellung von Waffen sowie Schmuck, Stoffe aller Arten und Farben für den Handel – Seide aus Rawindra, Wolle aus Alba, Leinen aus Aschran, Tüll und Spitze aus den Küstenstaaten, Leder in rauen Mengen …

      In dem Hauptbecken der Anlage, das von zehn kleineren zur Mitte hin offenen Felsenbecken umgeben war und von welchem zwei geflutete Tunnel wegführten, lagen hundert Schiffe der tausend Schiff großen Expeditionsarmada. Während die restlichen Teilflotten in den Nebenbecken darauf warteten, ihre Mannschaften an Bord zu nehmen und sich einer letzten Aufrüstung zu unterziehen, gingen die Hafenarbeiter daran, die Kommandoflotte auf Vordermann zu bringen. Die Drachenboote der Vallander zogen zwischen den gewaltigen Schiffsleibern der Transporter und Güldenmaid-Segler ihre Kreise und brachten Frachtgut und Besatzung an Bord jener Schiffe, die in zweiter oder dritter Reihe dümpelten. Die gesamte Armada war in zehn autarke Teilflotten gesplittet, die sich aus je zehn Kriegsschiffen, zehn Allzweckschiffen, zehn Mannschaftstransportern, fünfundsechzig Versorgungstransportern und fünf Drachen zusammensetzten. Nach dem Verlassen des Hafens würden die einzelnen Flotten in Doppelkeil-Formation gehen, wobei die Allzweck- und Kriegsschiffe in Flottillen zu je zwei oder drei Schiffen die Mannschafts- und Versorgungstransporter säumten. Die Drachen würden als unabhängige Kundschafter an den Flanken Position beziehen. An der Spitze jeder Flotte segelte das Kommandoschiff des betreffenden Vizeadmirals. Im Falle der Kommandoflotte handelte es sich dabei um das Flaggschiff der Armada, kommandiert von dem neuen Admiral Tauron Hagegard. Der stolze Güldenmaid-Segler trug den Namen Meerjungfrau, rühmte sich der anmutigen, in Bronze gegossenen Gestalt einer eben solchen am Bug und stand schon jetzt im Mittelpunkt aller Schaulustigen. Dem Abschied entgegentrauernde Angehörige hatten sich neben den Hafenarbeitern und den Besatzungsmitgliedern im Zentrum Tamangs eingefunden. Während ein Gutteil der Leute hart anpackte, sammelte sich ein anderer Teil gaffend um den Felsenkessel in der Mitte der Grotte.

      Flotte Eins und Zwei waren bereits durch einen der beiden Kanäle und das von den Zwergen gefertigte, von außen gänzlich unsichtbare Hafentor auf das offene Meer der Ruhe hinausgerudert worden. Während sechs Teilflotten noch in den Leibungen der Hafenanlage auf ihren Einsatz warteten, neigte sich die Arbeit an Flotte Drei und Vier allmählich dem Ende zu.

      Ein Stampfen wie von einer Horde Elefanten hallte von den nackten Felswänden wider. Die schwer gerüsteten Pioniereinheiten der Zwerge marschierten in der Hafenanlage auf und steuerten die Beckenleibung entlang auf ihre jeweiligen Mannschaftstransporter zu. Ihnen folgte Brigadier Ragna MacGythrun – ein albischer Adeliger, von dem es hieß, er wäre einer jener Rebellen aus den Reihen der MacGythruns, die sich nach ihrem Aufstand gegen ihren Clanag Adrian einst Al’Jebal angeschlossen hätten. Zusammen mit zehn Infanteriekompanien des insgesamt viertausend Mann starken Regiments der Landstreitkräfte hielt er auf die Mannschaftstransporter zu. Als handelte es sich dabei um eine Heerschau, ging ein Jubel durch die Reihen jener, die dem Aufbruch der Armada beiwohnten.

      Nachdem die Truppen an Bord gegangen waren, hallte ein fernes Donnern in die Felsengrotte und der Jubel verstummte mit einem Mal. Die Hektik unter den Hafenarbeitern fror ein und sämtliche Gesichter wandten sich dem Tunnel zu, in dem der dumpfe Schlag mächtiger Huftiere laut geworden war. Kurz darauf tauchten zwanzig Kentauren in der Grotte auf und trabten in Zweierreihen eine der Kaizungen entgegen, die aus der Leibung des Beckens ins Wasser ragten. Beim Anblick der stolzen und seltenen Wesen ging ein verhaltenes Raunen durch die Menge. Doch kaum, dass die Pferdemenschen ihre hehre Gestalt Preis gegeben hatten, tauchten sie auch schon wieder ab und verschwanden in den Schiffsbäuchen der eigens präparierten Transporter.

      Der Verlust war verschmerzbar, denn schon im nächsten Augenblick folgte ein neuer Höhepunkt: Aus der dem Flaggschiff am nächsten gelegenen Tunnelöffnung schälten sich die Konturen mehrerer Personen. Und die meisten davon waren jedem Allianzmitglied bekannt.

      Flankiert von seiner Rechten und Linken Hand, Agem Ill und Assef El’Chan, und begleitet von seinem Blutsbruder Freon Eisfaust, betrat Al’Jebal die Hafenhalle. In der vertrauten Tracht der dunkelroten Robe hielt er auf den Pier und den gemauerten Steg zu, an dem die Meerjungfrau lag.

      Wenige Schritte nach dem Sprecher der Allianz kamen drei Zauberkundige aus dem Tunnel, darunter eine Frau mit feuerrotem Haar an der Seite eines etwas dicklichen Magiers in nachtblauer und einem hageren in bunter Robe, den einige als einen der höchstrangigen Zauberkundigen der Allianz wiedererkannten. Sein Name war Ahrsa Kasai.

      Danach betrat eine Kriegerin in grau-grüner Tunika und lederner Schwertscheide am Rücken den Hafen. Ihr silbergraues Haar entlarvte sie als eine aus dem Volk der Elfen. Hinter ihr, an der Seite einer jungen, hübschen Zauberkundigen mit strengem Haarknoten, schritt ein missgestalteter Mann in weißer Toga mit roter Schärpe, den die meisten als Oberhohepriester des Agramon Telos Malakin kannten. Und während beim Anblick der Kommandanten der Expedition neugierige und meist wohlmeinende Blicke getauscht wurden, nahm man jene Männer, die sich kurz darauf aus dem Dunkel