Ingo T Herzig

Lars


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denn mit einem so hohen Beamten. Sie kam sich beinahe schuldig vor. Der Kommissar bemerkte dies und beruhigte sie:

      „Keine Angst, Frau Nielsen, mich interessiert nur, was Sie über diesen Toten wissen. Sie sind die Einzige, die sich auf unsere Anzeige hin gemeldet hat.“

      „Ich bin mir nicht ganz sicher“, raffte sie sich schließlich auf, „aber ich glaube, bei dem Toten handelt es sich um Lars Henström. Aber beschwören will ich es nicht; denn als ich ihn zum letzten Mal sah, war er sieben Jahre alt. Ich war ein Jahr lang seine Lehrerin. Das war vor etwa zwanzig Jahren, ich weiß es nicht mehr so genau.“

      „Was hat Sie auf den Gedanken gebracht, dass es dieser Lars Henström sein könnte“, wandte Inspektor Nørgaard ein, „wenn es denn schon so lange her ist, seitdem Sie ihn zuletzt gesehen haben?“

      „Die Ähnlichkeit“, versetzte Frau Nielsen. „Das schmale Gesicht, vor allem das Kinn, hat er von der Mutter, die Augen vom Vater. Ich würde sogar sagen, dass er seinen Eltern jetzt noch ähnlicher sieht als damals als Kind; aber die Gesichtsform hat mich schon damals an Frau Henström, seine Mutter, erinnert.“

      „Das klingt plausibel, und als Lehrerin hatten Sie Tag für Tag die Gelegenheit, Ihre Schüler in Augenschein zu nehmen. – Erzählen Sie, was Sie wissen.“

      „Ich war wie gesagt seine Lehrerin. Seine Familie stammt aus Blekinge in Schweden, das heißt, seine Mutter ist aus Blekinge. Sein Vater stammt, wenn ich mich recht erinnere, aus Stockholm. Er war – ich nehme an, er befindet sich inzwischen im Ruhestand – Herr Henström war von Beruf Kaufmann und hier in Kopenhagen für eine Stockholmer Reederei tätig. Vor etwa zwanzig Jahren – Lars war da gerade wie gesagt sieben Jahre alt – sind sie nach Schweden zurückgegangen. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde sein Vater an den Firmensitz in Stockholm zurückbeordert und bekam eine andere Position. Jedenfalls sind sie nach Schweden zurückgekehrt. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört.“

      „Vielen Dank, Frau Nielsen. Sie haben uns sehr geholfen. Wir werden dem nachgehen.“

      Frau Nielsen erhob sich und wandte sich zur Tür. Bevor sie jedoch hindurchschritt, blieb sie stehen, drehte sie sich noch einmal um und erzählte, einem inneren Bedürfnis folgend, weiter: „Ich hatte den Eindruck, dass Lars nicht gerne von hier weggegangen ist. Als bekannt geworden war, dass die Familie nach Schweden zurückkehren würde, wirkte er noch stiller als üblich, richtig deprimiert. – Darf ich fragen, was … was ihm zugestoßen ist?“

      „Wir haben ihn bei Charlottenlund aus dem Öresund gefischt“, antwortete Vizekommissar Gulbrandsen. „Bisher wissen wir nur, dass er im kalten Wasser an einem Herzschlag gestorben ist. Es sieht so aus, als sei er baden gegangen – mitten im Oktober.“

      Die Lehrerin fand mehrere Minuten lang keine Worte. Als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, sagte sie: „Charlottenlund sagen Sie … Die Familie hatte oder hat immer noch in Charlottenlund eine Sommerfrische.“

      Die Augen der beiden Polizeibeamten weiteten sich.

      „Aha, interessant“, sagte Inspektor Nørgaard. „Was wissen Sie noch alles über Lars’ Kindheit?“

      „Er war Einzelkind und ziemlich zurückgezogen“ fuhr Frau Nielsen fort, nachdem sie wieder Platz genommen hatte. „Es mag auch daran gelegen haben, dass er nicht ganz gesund war.“

      „Was hatte er denn?“

      „Er war schwindsüchtig. Sie sind manchmal hinüber nach Schweden gefahren, um dort einen Arzt aufzusuchen, der sich damit auskannte. Die Mutter kam dann persönlich zu mir, um den Jungen zu entschuldigen. Ich war einmal in den Sommerferien mit in Charlottenlund, um mit Lars den versäumten Lehrstoff nachzuarbeiten. Dies war ein ganz angenehmes Zubrot. Die Henströms waren sehr großzügig. Dort war der Junge häufiger draußen und hatte sogar auch Kontakt.“

      „Kontakt? Mit wem?“

      „Mit einem Mädchen aus dem Ort. Mit ihr lag er oft stundenlang auf einer Wiese. Am Strand habe ich sie auch gesehen. Es kann sein, dass seine Eltern gar nichts davon wussten. Sie hätten es wohl nicht geduldet, da sie Angst hatten, er könne sich von anderen etwas zuziehen. Vor allem seine Mutter war da übervorsichtig.“

      „Sie wissen nicht zufällig, wer dieses Mädchen war?“

      „Tut mir leid. Der Kleidung nach kam sie aus einer – wie soll ich sagen? – weniger wohlhabenden Familie. Sie hatte lange dunkle Haare, wirkte fast wie eine Ausländerin; aber aus der Nähe habe ich sie nie gesehen. Ich wollte nicht stören. Zu ihr hatte er allem Anschein nach eine gewisse Nähe aufgebaut.“

      „Wie war Lars als Schüler? Wie war sein Verhältnis zu seinen Mitschülern?“

      „Zurückhaltend. Er hat sich nicht viel mit seinen Mitschülern beschäftigt und sie sich nicht mit ihm. Wenn die anderen draußen gespielt haben, hat er sich allein mit anderem beschäftigt.“

      „Womit?“

      „Gelesen, gemalt – ich weiß es gar nicht mehr so genau. Ich hatte ja keinen privaten Kontakt mit ihm, und auch die anderen Kinder erforderten meine Aufmerksamkeit, fast noch mehr als Lars. Wenn alle so pflegeleicht gewesen wären wie er …“

      „Vielen Dank, Frau Nielsen. Das hilft uns ein ganzes Stück weiter“, bedankte sich Vizekommissar Gulbrandsen. Die beiden Polizeibeamten begleiteten sie zur Tür.

      „Dann werden wir jetzt die Firma aufsuchen, wo Henströms Vater gearbeitet hat“, beschloss Inspektor Nørgaard. „Wissen Sie, wo das ist?“

      In der Reederei, welche gleich am Hafen lag, erfuhren die Polizeibeamten, nachdem einige Personalakten aus dem Archiv herangeholt worden waren, dass Herr Walter Henström an den Firmensitz in Stockholm versetzt worden sei, um dort eine leitende Funktion zu übernehmen. Die ganze Familie sei ihm nach Schweden gefolgt.

      „Das heißt“, meinte Inspektor Nørgaard, „dass wir weitere Antworten in Stockholm finden.“

      „Und dieses Mädchen, mit dem Lars Henström seine Zeit in Charlottenlund verbracht hat? Hätten Sie eine Idee, wie wir es finden könnten?“

      „Wie denn? Nach über zwanzig Jahren? Schwerlich, zumal wir nicht einmal ihren Namen kennen. Und selbst wenn – wer weiß, ob sie sich überhaupt noch an ihn erinnert.“

      Gulbrandsen seufzte tief. Der Fall schien sich als komplizierter zu erweisen als er vermutet hatte.

      Die Nachforschungen in den Taufbüchern der Kirchen ergaben schließlich Aufschluss über die Identität des jungen Mannes: Es handelte sich um Lars Henström, geboren am 15. Februar 1810 in Kopenhagen.

      „Das genaue Sterbedatum wissen wir leider nicht“, brummte Vizekommissar Gulbrandsen in sich hinein, als es darum ging, den vorläufigen Bericht abzufassen.

      „Zumindest wissen wir, dass er verstorben ist“, meinte Inspektor Nørgaard. „Er war noch keine dreißig! – Was für ein Sterbedatum werden Sie in den Bericht schreiben?“

      „Ich nehme den Tag vorher, den 14. Oktober. Damit ist der Bürokratie vorerst Genüge getan. Vorerst.“

      Charlottenlund

      Das einstöckige Haus mit dem Reetdach stand außerhalb des Dorfes nicht weit vom Strand. In der Nähe lag das gleichnamige Schloss. Das kleine Grundstück war von einer kniehohen Mauer eingefasst. Vor dem Haus standen ein Tisch und mehrere Stühle. Man hörte hier die Wellen rauschen. Vizekommissar Gulbrandsen konnte sich eines tiefen Seufzers nicht erwehren. Er hätte nicht übel Lust gehabt, sich sogleich auf einem der Stühle niederzulassen, um die Ruhe zu genießen, die Wellen rauschen zu hören und nicht weiter an seine Arbeit denken zu müssen. Das triste Oktoberwetter spielte kaum eine Rolle. Die Wirklichkeit sah indes anders aus.

      Der Vizekommissar öffnete die Gartentür und betrat zusammen mit Polizeiassistent Hofmann das Grundstück. Gulbrandsen wies den Assistenten an, sich umzuschauen, ob irgendwo, sei es unter einem Stein oder auf einem Fensterrahmen,