Ingo T Herzig

Lars


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aber seine Bemühungen erwiesen sich als ebenso erfolglos wie die des Assistenten, der ebenfalls Schulter zuckend von seiner Suchmission zurückkehrte. Darauf griff er in seine Tasche, holte einen Dietrich hervor und begann damit das Schloss zu öffnen.

      „Ha, was machen Sie da?“, ertönte plötzlich eine laute männliche Stimme. „Was haben Sie dort zu suchen?“

      Ein hagerer älterer Mann in einem langen Mantel und mit Zylinder und Stock bewaffnet kam herbeigerannt. Er stürmte auf das Grundstück der Henström’schen Sommerfrische und kam nur mit Mühe zum Stehen, wobei er Vizekommissar Gulbrandsen, der sich ihm in den Weg gestellt hatte, beinahe umrannte.

      „Was suchen Sie hier auf diesem Grundstück?“, fragte der Mann.

      „Das könnten wir Sie auch fragen“, versetzte der Vizekommissar und hielt ihm seine Polizeimarke vors Gesicht. „Vizekommissar Gulbrandsen, Polizeidienststelle Kongens Lyngby. Und wer sind Sie?“

      „Mein Name ist Bergmann, ich bin Bürgermeister von Charlottenlund. Mir wurde berichtet, dass zwei unbekannte Männer dieses Grundstück betreten hätten und sich am Haus zu schaffen machten. Darf ich fragen, was Sie hier suchen?“

      „Wir ermitteln“, antwortete Polizeiassistent Hofmann. „Kennen Sie die Besitzer dieses Sommerhauses?“

      „Nur flüchtig. Eine Familie Henström aus Schweden. Der Vater suchte mich im Amt auf. Hier war schon seit Jahren niemand mehr. Darf ich fragen, was Sie hierherführt?“

      „Kannten Sie auch den Sohn der Familie, Lars Henström?“, fragte Vizekommissar Gulbrandsen.

      „Nur vom Sehen. Aber warum sagen Sie kannten?“

      „Weil wir ihn gestern hier in der Nähe aus dem Öresund geholt haben. Tot.“

      „Tot?“

      „Herzstillstand, wohl durch das kalte Wasser. Er war im Badekostüm, das heißt, er wollte baden gehen. Wir stehen vor allerhand Fragen“, erklärt Gulbrandsen.

      „Daher wollen wir uns in dem Haus umsehen“, sagte der Polizeiassistent. „Vielleicht finden wir irgendwelche brauchbaren Hinweise.“

      „Ich denke eher nicht“, wandte Bergmann ein. „Hier war meines Wissens lange keiner mehr. Aber gut.“

      „Sie wissen auch nicht zufällig, ob es hier einen versteckten Schlüssel gibt?“

      „Keine Ahnung. Vielleicht kann Ihnen Alma Hænning, die ehemalige Haushälterin der Henströms, weiterhelfen. Die wohnt in Kopenhagen, stammt aber von hier.“

      „So lange können wir nicht warten“, wandte Gulbrandsen ein. „Außerdem ist es ja gar nicht sicher, dass sie einen Schlüssel besitzt oder ob sie sonst weiß, wie man hineinkommt. Aber danke für den Hinweis, Herr Bergmann! – Herr Hofmann, bitte!“

      Der junge Polizeiassistent setzte gekonnt den Dietrich an, und in wenigen Augenblicken war die Tür geöffnet, ohne dass das Schloss einen Schaden davontrug.

      „Sie gäben einen tüchtigen Eibrecher ab“, meinte Bürgermeister Bergmann.

      „In unserem Beruf muss man wissen, wie die andere Seite arbeitet“, erwiderte Vizekommissar Gulbrandsen.

      Die drei Männer betraten gespannt das Haus.

      Das recht geschmackvoll eingerichtete Innere entlockte dem Vizekommissar einen abermaligen Seufzer. Hier mal ein paar Tage ausspannen zu können, das wäre etwas! Durch die Tür betrat man gleich das Wohnzimmer. Die Tür zur Rechten führte in die Küche. Direkt der Eingangstür gegenüber führte eine Treppe ins Dachgeschoss, wo sich zwei Schlafräume befanden. Einer davon war unzweifelhaft das Schlafzimmer der Eltern gewesen. Im anderen hatte Lars seinen Unterschlupf gehabt. Davon zeugten die Bücher, Bilder und Spielzeuge an den Wänden und auf Wandregalen.

      Alle drei stutzten. Das Bett erweckte den Eindruck, als habe erst kürzlich jemand darin genächtigt. Bei, genaueren Hinschauen fiel auf, dass die Staubschicht hier in diesem Zimmer bei weitem nicht so ausgeprägt war wie zum Beispiel im Raum, den man unschwer als Schlafzimmer der Eltern identifizieren konnte. Gulbrandsen öffnete den Kleiderschrank. Darin hing ein Anzug, und im Fach darunter stand ein Paar Schuhe. In einer der Schubladen lag Unterwäsche, die ebenfalls nicht so wirkte, als liege sie seit langer Zeit dort. Polizeiassistent Hofmann rannte hinunter in die Küche und meldete: „Hier sind Reste von Nahrungsmitteln. Das Geschirr wurde erst kürzlich benutzt – und es muss sich unlängst jemand hier rasiert haben.“

      Kein Zweifel: Lars Henström hatte sich vor seinem Tod hier aufgehalten.

      Eine Umfrage bei den Dorfbewohnern ergab, dass sie tatsächlich jemanden im und um das Sommerhaus gesehen hatten. Es sei wohl ein junger Mann gewesen; aber auf die Entfernung habe man dies nicht genau erkennen können. Im Dorf hatte er sich offenbar eher selten gezeigt. Als der Kaufmann ihn fragte, ob er ein Angehöriger der Familie Henström sei, bejahte der Fremde kurz und knapp und gab an, ein Neffe von Herrn Henström zu sein, der sich hier von einer Krankheit erholen wolle.

      Mehr war hier beim besten Willen nicht herauszubekommen. Weitere Antworten würden sich nur noch in Schweden finden lassen, wohin die Familie zurückgekehrt war. Vizekommissar Gulbrandsen wandte sich am nächsten Tage an die vorgesetzte Behörde in Kopenhagen, um den Fall zu schildern und sie zu bitten, um Amtshilfe vor Ort anzusuchen. Der Polizeipräsident beauftragte Gulbrandsen selbst mit den Ermittlungen im Nachbarland und ließ ihm einen Geleitbrief ausfertigen, welcher ihn dazu befugte, selbst um Amtshilfe bei der schwedischen Polizei zu anzusuchen. Es sei sicherer und vor allem schneller, als die Akten mit der Post zu schicken. Vizekommissar Gulbrandsen fuhr hernach gleich nach Hause, um zu packen.

      Dienstreise nach Schweden

      Nach einer beschwerlichen Schiffsreise durch den vom Herbstwind aufgewühlten Öresund, um die Länder Schonen und Blekinge herum und schließlich an Schwedens Ostküste entlang gen Norden erreichte Vizekommissar Gulbrandsen an einem ungemütlichen Nachmittag gegen Ende Oktober die schwedische Hauptstadt und wandte sich gleich nach seiner Ankunft umgehend an das dortige Polizeipräsidium mit dem Ziel, dort um Amtshilfe anzusuchen. Am liebsten hätte er seine Ermittlungen unverzüglich fortgesetzt; aber sein schwedischer Kollege, Kommissar Lundahl, konnte ihn überzeugen, dass um diese Uhrzeit nichts mehr auszurichten sei, und empfahl ihm eine preiswerte Herberge.

      Am folgenden Tag begleitete der Stockholmer Kommissar Lundahl seinen dänischen Kollegen zum Hauptsitz der Reederei, für welche der Vater des Toten einst tätig gewesen war. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich in dem großen Kontorgebäude, das im Baustil und auch durch seine Lage unmittelbar am Hafen an die Zeit der Hanse erinnerte, zurechtgefunden hatten. Die Auskünfte, welche sie von dem Pförtner und auch den Angestellten, denen sie begegneten, erhielten, empfand Gulbrandsen eher als noch mehr verwirrend als aufschlussreich. Seinem schwedischen Kollegen schien es ebenso zu gehen, was ihm eine gewisse Beruhigung verschaffte. Also lag es nicht an der schwedischen Sprache, welcher Gulbrandsen als Däne bislang problemlos hatte folgen können.

      Schließlich fanden sie das Personalbüro, das in einem abgelegenen Flügel des Kontorhauses lag. Sie wurden freundlich empfangen und man zeigte sich sehr hilfsbereit, zumal Lars’ Vater, Herr Walter Henström, auch jetzt noch, etliche Jahre nach seiner Pensionierung und nach seinem plötzlichen Tod, einen guten Ruf genoss. Sie mussten sich indes eine ganze Weile gedulden, bis die notwendigen Personalakten aus dem Archiv herausgesucht waren; doch diese enthielten lediglich dienstliche Informationen, z. B. wann und wohin Walter Henström versetzt worden war und wann sich zur Ruhe gesetzt hatte. Seitdem bestand kein Kontakt mehr, weder zu ihm selbst noch zu seiner Familie; denn die meisten seiner Zeitgenossen waren ihrerseits bereits in Pension, und auch der junge Personalchef konnte sich an ihn persönlich nicht erinnern. Es war ihm lediglich bekannt, dass er inzwischen verstorben war. Die Polizeibeamten bekamen Namen pensionierter Mitarbeiter genannt, welche die Henströms auch persönlich gekannt und bei ihnen verkehrt hatten. Die beiden Polizeibeamten nahmen hierauf eine Droschke und ließen sich zur ersten Adresse auf der Liste bringen.

      Die Familie