Ingo T Herzig

Lars


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muss ihm schwergefallen sein. In der Anfangszeit sprach er nur dänisch, kein Wort schwedisch. Nicht, weil er es nicht konnte, sondern eher wohl aus Trotz. Hier in Blekinge fällt das ja nicht so sehr auf – wir waren ja mal dänisch –, aber in Stockholm durchaus. In Stockholm hatte Lars sich nicht wohlgefühlt. Er war, wie ich aus den Erzählungen seiner Mutter heraushörte, mit seinen dortigen Altersgenossen überhaupt nicht klargekommen – oder sie nicht mit ihm. Sie hänselten ihn gezielt – wohl nicht zuletzt wegen seiner dänischen Aussprache und auch des dänischen Vokabulars. Ich hatte wirklich den Eindruck, dass er aus Trotz daran festhielt, aus Protest gegen den Umzug nach Schweden. Es war schwer, an ihn heranzukommen. Ich hatte auch meine Schwierigkeiten mit ihm. Er ließ niemanden an sich heran.

      Mutter und Sohn siedelten auf ihr Familienanwesen Söndergård über, das liegt hier in der Nähe von Karlskrona. Lars’ Vater blieb in Stockholm und ging dort seinem kaufmännischen Beruf in der Reederei nach. Er konnte wegen der Entfernung nicht oft nach Blekinge kommen.

      Ich hatte auch das Gefühl, dass Blekinge für Lars die bessere Lösung war, fand es aber nicht gut, dass der Vater so weit weg war. Ich hatte den Eindruck, dass Lars ihn sehr vermisste. Er brauchte ihn. Aber in Blekinge lag nun einmal das Familienanwesen, und dort ist es ja auch sehr schön, im Gegensatz zur Großstadt.“

      „Wie erging es Lars dort? Fühlte er sich dort wohl? Kam er zu Kräften?“, wollte Vizekommissar Gulbrandsen wissen.

      „Anfangs war alles in Ordnung. Er kam tatsächlich zu Kräften. Zuerst besuchte er die Dorfschule in Ramdala. Allerdings fand er auch hier keinen richtigen Anschluss bei seinen Mitschülern. Sie wussten nichts so recht mit ihm anzufangen. Er wirkte wie ein Fremdkörper, zumal er wie gesagt anfangs nur dänisch sprach und sich nicht anpasste. Sie machten sich auch über seine steife Art lustig und darüber, dass er selbst bei schönstem, wärmstem Wetter voll bekleidet herumlief wie im Winter und nicht so sommerlich und barfuß wie sie selbst. Aber sie ließen ihn weitgehend in Ruhe.

      Er stand immer abseits. Seine Stimmung wurde zusehends schlechter. Als er einmal mit einem älteren Mitschüler aneinandergeriet, der ihn provoziert hatte, wurde er von diesem Mitschüler in den Schultümpel geschubst, und das mitten im Winter. Die Folgen blieben nicht aus: Er wurde krank und konnte über längere Zeit das Haus nicht verlassen. Dadurch verlor ein Schuljahr. In der Zwischenzeit habe ich mit ihm, so gut es ging, gelernt.“

      „Wir würden gern mit seiner Lehrerin von damals sprechen“, sagte Kommissar Lindgren.

      „Frau Lindström“, antwortete Rosalinde. „Sie war schon damals eine betagte Dame und bei den Schülern beliebt. Sie lebt schon seit einigen Jahren nicht mehr.“

      „Wie war Ihr persönliches Verhältnis zu Lars?“, erkundigte sich Vizekommissar Gulbrandsen nach einer kurzen Gedankenpause.

      „Wir fanden auch keinen richtigen Kontakt zueinander; aber das verwunderte mich nicht weiter; denn seine Mutter hatte mich schon darauf vorbereitet, dass Lars ‚ein schwieriges Kind’ sei. Ich hatte das Gefühl, dass ihm der Vater fehlte, dass ihm die ganzen Frauen um ihn herum zu viel waren.“

      Sie machte eine kleine Pause, die auch die beiden Polizeibeamten zu begrüßen schienen, um das bisher Vernommene etwas verarbeiten zu können.

      „Zu Ostern“, fuhr Rosalinde fort, „kam sein Vater aus Stockholm. Lars freute sich sehr darüber und sein Zustand besserte sich wieder. Ich hoffte inständig, Herr Henström würde länger bleiben. Das hätte Lars gewiss gutgetan; aber meine Hoffnung wurde enttäuscht. Bereits am Ostermontag musste er wieder nach Stockholm abreisen, und wie ich befürchtet hatte, so kam es: Lars’ Zustand verschlechterte sich wieder.

      Als er wieder etwas zu Kräften gekommen war, fand ich ihn öfter am Fenster seines Zimmers sitzen. Das Zimmer lag unter dem Dach. Man hatte von dort einen schönen Blick in das Wäldchen hinter dem Haus. Irgendwie gelang es ihm, Kontakt mit einem Mädchen zu knüpfen, das zusammen mit anderen Kindern draußen herumtobte. Sie kletterte gern auf Bäumen herum. Sie sprang flink wie ein Affe von einem Ast zum anderen, ohne herunterzufallen oder sich sonst zu verletzen. Ich sah sie oft, wenn ich vorbeiging, und ich sah, wie Lars sie von seinem Mansardenfenster aus beobachtete, manchmal auch mit einem Fernrohr, das er sich aus dem Arbeitszimmer seines Vaters ausborgte – wahrscheinlich ungefragt. Dieses Mädchen kletterte schließlich auch auf den Baum hinter dem Henström’schen Haus – ohne sich freilich darum zu scheren, dass es sich um ein Privatgrundstück handelte, auf dem sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Sie war auch bei Lars im Zimmer; denn ich sah hernach die Abdrücke ihrer schmutzigen bloßen Füße auf dem Boden, die Lars nicht vollständig beseitigt hatte. Einmal hatte ich sie von außen ganz kurz auf dem Dachvorsprung vor Lars’ Fenster sitzen sehen, war mir aber nicht sicher, ob ich richtig gesehen hatte; denn sie war plötzlich verschwunden. Jetzt wusste ich Bescheid, dass ich mich keineswegs getäuscht hatte. Seitdem fehlten auch immer wieder einzelne Lebensmittel, wie mir die Köchin erzählte, hauptsächlich Kuchen, Kekse, Bonbons, was halt gerade da war. Dies kam mir auch seltsam vor; aber an Lars dachte ich dabei zunächst überhaupt nicht, da er kein großer Esser war und man ihn zum Essen eher nötigen musste. Schließlich fand ich heraus, dass es tatsächlich Lars gewesen war, der die Süßigkeiten entwendet hatte; allerdings keineswegs für sich, was mich wie gesagt auch gewundert hätte, sondern eben für seine heimliche Besucherin. Ich nehme an, dass er sie auf diese Weise zu sich gelockt hatte. Ich hatte durchaus den Eindruck, dass sie für einen zusätzlichen Imbiss dankbar war.

      Diese heimlichen Besuche waren gewiss nicht ganz ungefährlich für Lars. Wer weiß, was für Krankheitserreger sie mitbrachte. Ich brachte beide zu Lars‘ Mutter. Er bedachte mich dabei mit einem Schimpfwort, an das ich mich zum Glück nicht mehr erinnere. Seine Mutter gab ihm zwei ordentliche Ohrfeigen und beendete damit diese ‚Affäre’.“

      „Wie alt war er da?“, erkundigte sich Kommissar Lindgren.

      „Er war im Frühjahr acht geworden. – Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich daraufhin von einem Tag auf den anderen ganz erheblich“, fuhr Rosalinde fort. „Wir dachten, dieses Mädchen hätte ihn mit irgendetwas infiziert. Heute habe ich eher das Gefühl, es hatte ihm zugesetzt, dass er sich nicht mehr mit ihr treffen durfte. Der Arzt meinte, es sei das Beste für Lars, wenn er – wie soll ich sagen? – für einige Zeit in ein ‚steriles Umfeld’ käme. Er schlug ein Genesungsheim für Kinder mit Atemwegserkrankungen in Schonen vor. Die Mutter sagte sofort zu. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass sie hierbei weniger um seine Gesundheit besorgt war, sondern ihn eher dafür bestrafen wollte, dass er sich hinter ihrem Rücken mit diesem Mädchen getroffen hatte.“

      „Wo liegt dieses Kindergenesungsheim?“, fragte Vizekommissar Gulbrandsen.

      „In der Nähe von Kristianstad. Das Heim heißt ‚Christina’. Das Verhältnis zwischen Lars und mir, das ohnehin nicht sehr innig war, war nach der Geschichte mit der heimlichen Besucherin noch mehr abgekühlt. Da man mich während Lars’ Abwesenheit nicht entlassen wollte – ich verstand mich nämlich gut mit seiner Mutter –, bekam ich andere Aufgaben zugeteilt.“

      „Wie lange blieb er in Schonen?“

      „Drei Monate. Der Aufenthalt dort schien ihm wirklich gut bekommen zu sein. Er wirkte hernach kräftiger, sein Gesicht war nicht mehr so blass. Trotz der Geschichte mit dem Mädchen.“

      „Was für eine Geschichte?“

      „Er hatte sich dort mit einem Mädchen angefreundet. Dieses bekam, wenn ich es richtig verstanden habe, einen Rückfall und verstarb ganz plötzlich.“

      Sie machte eine Pause, um Atem zu schöpfen, und auch die Kommissare brauchten eine Pause, um das Gehörte zu verarbeiten.

      „Als er nach seiner Kur in Schonen wieder die Dorfschule in Ramdala besuchte, schien alles in Ordnung zu sein. Seine Leistungen waren so gut, so dass er aufs Gymnasium überwechseln konnte.“

      Rosalinde legte abermals eine kurze Pause ein, holte erneut tief Atem und fuhr fort: „Zwei Jahre später kam er aufs Gymnasium hier in Karlskrona. Damit endete meine Zeit im Hause Henström.“

      „Hatten Sie danach noch Kontakt zur Familie Henström?“, fragte