Emma Baro

Rawanni und die Mafiosi


Скачать книгу

hockte sich neben das Bett und betrachtete ihr Gesicht, ihre geschlossenen Augen, ihre wunderschönen schwarzen Haare, die wirr über ihrem Rücken gebreitet lagen. Sie trug ein ärmelloses Hemd und er konnte es nicht verhindern, dass seine Finger über ihren bloßen Arm streichelten.

      "Hast du gut geschlafen?", fragte er leise.

      Sie murmelte ein verschlafenes Ja, während sie sich rekelnd auf den Rücken drehte. "Ich habe schon lange nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen", murmelte sie und blinzelte mit einem Auge.

      "Ich muss leider gleich zur Arbeit. Das Frühstück steht auf dem Tisch, du kannst aber noch ein wenig weiterschlafen. Es hat nämlich geschneit. Also bleib besser im Bett."

      "Mhm."

      "Ich komme mittags vorbei und wir können zusammen essen gehen."

      "Mhm."

      "Ich werde Mally Bescheid sagen, dass du hier bist."

      Ungern verließ er schließlich die Wohnung.

      Bevor Al zum Department fuhr, machte er einen Umweg beim Lager vorbei. "Hi, Mally", grüßte er gut gelaunt.

      "Hi, Al. Rawanni ist nicht da. Ich mache mir etwas Sorgen, sie hat heute Nacht nicht hier geschlafen." Sie blickte ihn verschmitzt an. "Aber nach deinem Strahlen zu urteilen, weißt du, wo sie ist."

      "Ja, sie ist bei mir. Sie hat gestern einen Eimer Wasser abbekommen, als sie bei Perrys Restaurant nach Arbeit fragen wollte. Der Typ hat geglaubt, dass sie betteln wollte. Passt also auf, da braucht ihr nicht nach Resten fragen."

      "Oh je, ich hätte sie vorwarnen sollen. Den Laden meiden wir bereits. Und sie ist dann einfach zu dir mitgekommen?"

      "Ja. Ich musste sie natürlich ein wenig überreden, aber sie fror heftig und meine Wohnung lag näher."

      "Du weißt: Ich sähe es gern, wenn ihr beiden zusammenkommen würdet. Du bist ein guter Mann, Al, und würdest sie sicherlich glücklich machen. Außerdem brauchst du endlich wieder eine Frau."

      "Ja, Elisa ist jetzt seit drei Jahren tot. Rawanni ist die erste Frau, die meine Gefühle geweckt hat, aber leider ist das nur einseitig. Sie scheint wie in einem Schneckenhaus zu sitzen, aus dem sie nicht heraus kann."

      "Du solltest ihre Sachen mitnehmen", schlug sie vor.

      "Glaubst du, sie bleibt bei mir?"

      "Du etwa nicht?"

      "Ich weiß es nicht. Sie ist verängstigt wie ein scheues Reh, lässt niemanden an sich ran und spricht nicht über sich. Ich darf keine Fragen über ihr Leben stellen. Wo ist sie aufgewachsen? Wer sind ihre Eltern? Nichts erzählt sie mir. Was verbirgt sie? Vor was hat sie Angst? Du hast recht, es muss ihr Schlimmes passiert sein."

      "Dann finde es heraus, Al, du bist schließlich Polizist."

      "Damit könnte ich aber das bisschen Vertrauen, das sie mir entgegenbringt, vollständig zerstören."

      "Möglich", meinte Mally, "aber du wirst dich ständig fragen und quälen, welches Geheimnis sie verbirgt. Eines aber fühle ich mit Sicherheit: Sie ist keine Verbrecherin."

      Al lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Danke, Mally."

      Nachdem Al die Tasche mit Rawannis Sachen in den Kofferraum gelegt hatte, drängte es ihn hineinzuschauen. Er fand die rote Reizwäsche, von der Mally gesprochen hatte, und ließ den Spitzenstoff durch seine Finger gleiten. Er beschloss hinter ihr Geheimnis zu kommen.

      Rawanni stand am Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die gleichmäßig vom Himmel fielen. Als Wohnung war bei diesem Wetter natürlich weit bequemer und wärmer als die kalte Behausung des Lagers. Sie haderte mit sich. Was sollte sie tun? Schließlich entschloss sie sich, noch einige Tage zu bleiben, wenigstens so lange, bis das Wetter wieder besser werden würde.

      Al kam gegen Mittag strahlend und gut gelaunt nach Hause. Er hatte sich für den Nachmittag freigenommen.

      Nach dem Essen in einem italienischen Restaurant ging er mit ihr einkaufen. Er musste sie bei jedem Kleidungsstück überreden es zu nehmen. Es war ihr unangenehm, wenn er die Sachen bezahlte.

      Danach machten sie einen Spaziergang durch die verschneiten Straßen. Mit staunenden Augen betrachtete sie die weihnachtlich geschmückten Geschäfte. Der 30 Meter hohe Weihnachtsbaum am Rockefeller Center war besonders beeindruckend und lockte jährlich viele Touristen aus aller Welt an.

      Es war ein schöner Nachmittag mit Al. Für ein paar Stunden hatte sie ihre Probleme vergessen können. Sie würde gerne bei ihm bleiben, seine Gesellschaft tat ihr gut, aber es war nicht möglich.

      Am nächsten Morgen brachte Al ein Glas mit ihren Fingerabdrücken zum Labor und bereits einen Tag später lag das Ergebnis vor. Wie erstarrt blickte er auf den Bildschirm seines Computers. Sie wurde mit Haftbefehl wegen Mordes gesucht. Es war eindeutig ihr Bild und ihr Name. Die Beweise waren erdrückend. Nein, das konnte nicht sein — es durfte nicht sein. Sie wurde außerdem verdächtigt, in die Ermordung des Millionärs Ed McCurly und des FBI-Agenten Luke Calahan verwickelt zu sein. Er las den Text zweimal und ein drittes Mal, weil er es nicht glauben wollte. Rawanni konnte doch keine Mörderin sein! Er musste unbedingt mehr darüber erfahren, die Fahndungsdaten erzählten nicht die Geschichte, die dahintersteckte.

      Aber er musste mit seinen Nachforschungen sehr vorsichtig sein, denn wenn er an den Falschen geriet oder die falschen Fragen stellte, konnte das für Rawanni schwerwiegende Folgen haben. Er bemerkte bei seinen Überlegungen, wie er ihre Partei ergriff, obwohl er nicht die Tatsachen kannte. Es war einfach aus dem Gefühl heraus — sie war unschuldig. Aber was war, wenn sie doch eine Mörderin war? Er musste dann seinem Polizeieid folgen und sie verhaften. Aber das würde er nicht über sich bringen. Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und rieb sich die Augen.

      Dann wusste er auf einmal, was er zuerst tun musste. Es war einen Versuch wert. In ihrer Akte stand der Name Luke Calahan. Dieser FBI-Agent hatte mit Sicherheit einen Partner, der ihm vielleicht mehr erzählen konnte. Denn an die obersten Stellen wollte er sich auf keinen Fall wenden, um nicht Gefahr zu laufen, dass Rawanni aufgrund seiner Fragen entdeckt wurde. Sollte dieser Partner wütend reagieren und Rawanni verwünschen, müsste er die Befragung einstellen. Als Nächstes könnte er unter ihrer alten Wohnanschrift in Denver mit ihrem Vormund Jeff Andrews sprechen, aber eins nach dem anderen.

      Er wählte die Nummer des FBI-Hauptquartiers in Washington, D. C. Seine Hände schwitzten, während er wartete. Der Dame in der Telefonzentrale sagte er, er rufe wegen der Ermordung des FBI-Agenten Calahan an und würde gerne dessen ehemaligen Partner sprechen. Sie stellte durch.

      "Colby", meldete sich eine angenehme Stimme am anderen Ende.

      "Guten Tag, ich bin Detective Al Lawson vom New Yorker Police Department. Spreche ich mit dem früheren Partner von Luke Calahan?"

      "Ja, ich bin Ray Colby und habe bis zu seiner Ermordung mit ihm zusammengearbeitet."

      "Kennen Sie eine junge Frau mit Namen Rawanni?"

      Sekundenlanges Schweigen. Al hörte deutlich schweres Atmen, dann ein Räuspern. War es ein gutes oder schlechtes Zeichen? Seine Nervosität stieg.

      "Ja, ich kenne sie", kam die zögernde Antwort.

      "Können Sie mir Näheres über sie erzählen?" Wieder ein Zögern.

      "Äh, nein. Ich weiß nur, dass sie wegen Mordes gesucht wird."

      "Ja, das steht in ihrer Akte, aber ich möchte mehr über die Hintergründe erfahren. Hat sie mit der Ermordung Ihres Partners zutun?"

      "Das kann ich definitiv verneinen. Sie hat ein Alibi."

      "Gott sei Dank", entfuhr es Al leise, aber Ray hatte es gehört und wurde neugierig.

      "Darf ich fragen, was Sie an Rawanni interessiert? Sie sind doch aus New York, wenn ich richtig verstanden habe."

      "Ja, das stimmt." Wie sollte er die Antwort bloß formulieren? "Nun … sagen wir mal, es ist eher ein inoffizielles Interesse."