Emma Baro

Rawanni und die Mafiosi


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Al wischte seine schweißnasse Hand an der Hose ab. Er hörte seinen eigenen Pulsschlag im Ohr. Colby schwieg wieder, er schien zu überlegen. Was nun?

      "Kann ich Sie treffen?", schlug Colby auf einmal vor. "Ich möchte nicht am Telefon darüber sprechen."

      "Ja, gerne. Wo?" Al machte innerlich einen Freudensprung.

      "Ich komme morgen nach New York. Bleiben Sie im Department, ich werde gegen Mittag bei Ihnen sein."

      "Sehr gut. Ich hätte noch eine Bitte: Erwähnen Sie nicht, dass Sie vom FBI sind."

      "Okay." Das hatte Ray sowieso nicht vor.

      ***

      Ray brauchte mit seinem Wagen für die 230 Meilen bis New York fast vier Stunden; er wollte nicht den Flieger nehmen. Es war besser, wenn niemand seinen Zielort kannte.

      Nervös stand er vor Al Lawson und reichte ihm die Hand.

      "Danke", sagte Al, "dass Sie sich die Zeit genommen haben. Kommen Sie, ich lade Sie zum Essen ein, dabei können wir ungestörter reden." Er musterte sein Gegenüber genauso wie es Ray tat.

      Al warf sich das Jackett über und ging mit Ray in ein Schnellrestaurant in der Nähe.

      "Wie gut kennen Sie Rawanni?" Al tastete sich vorsichtig vor und bemerkte, wie Ray Colby versuchte ihn ebenfalls einzuschätzen. Wie viel konnte er ihm sagen?

      Diese Frage stellten sich beide.

      "Sehr gut", sagte Ray schließlich, denn Al machte auf ihn einen ehrlichen und auch sympathischen Eindruck. Trotzdem war er noch misstrauisch. "Aber bevor ich Ihnen mehr erzähle, möchte ich wissen, wie Sie zu Rawanni stehen."

      Al lächelte verhalten. "Ja, ich verstehe." Er holte tief Luft. "Ich denke, ich kann Ihnen vertrauen, denn ich möchte Rawanni nicht schaden."

      Ray entspannte sich. "Ja, ich auch nicht."

      "Gut, sehr gut." Al atmete erleichtert aus. "Ich ermittle nicht gegen Rawanni, es ist eine private Sache." Er sah Colby mit offenem Blick an. "Ich glaube, ich habe mich in sie verliebt."

      Rays Gesicht erhellte sich schlagartig und er lächelte ebenfalls erleichtert. "Wenn das so ist, dann werde ich Ihnen ihre Geschichte erzählen. Es ist eine traurige Geschichte."

      Und Ray erzählte, während Al gebannt an seinen Lippen hing. Der grausame Tod ihres Mannes ergriff Al zutiefst.

      "Ich bin nur froh", endete Ray, "dass es Rawanni gut geht. Wir hatten uns große Sorgen gemacht, als ihr Wagen noch vor dem Krankenhaus stand und es von ihr keine Spur gab. Ich hatte ihr geraten Denver zu verlassen und ins Reservat zurückzukehren, aber sie wollte sich vorher noch von Andrews verabschieden, doch dort ist sie nie angekommen. Aber wenn sie hier in New York ist, kann das nur bedeuten, dass Abbe Collins sie hierher gebracht hat."

      "Dann müsste Collins noch in der Stadt sein?"

      "Wahrscheinlich ja. Er verschwand aus Denver, nachdem wir ihm auf die Spur gekommen waren. Er hofft sicherlich hier genügend Abnehmer für seine Drogen zu finden."

      Al seufzte nachdenklich. "Rawanni sitzt verdammt tief in der Klemme."

      "Das kann man wohl sagen. Sie wissen, wo sie sich aufhält?"

      "Ja, in den letzten Wochen hat sie auf der Straße gelebt und dort neue Freunde kennengelernt. Seit einigen Tagen ist sie bei mir. Sie wirkt so scheu und verletzlich, redet nicht über sich … Sie hat sich vollkommen hinter einer Mauer abgeschottet, jetzt verstehe ich auch warum."

      "Rawanni ist eine sehr starke Frau", sagte Ray. "Sie muss wahrscheinlich erst mit dem Verlust ihres Mannes fertig werden."

      "Ich werde versuchen ihr dabei zu helfen, wenn sie mich lässt."

      "Ja, Al, Sie sind vielleicht der richtige Mann an ihrer Seite, denn sie braucht jetzt dringend jemanden, der sie aus diesem Tief herausholt. Es wird ein schwieriger Weg werden. Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen, dass sie sich Ihnen körperlich zuwenden wird, denn die Liebe zwischen ihr und Luke war sehr stark und intensiv. Als sie sich kennenlernten, hat bei beiden der sprichwörtliche Blitz eingeschlagen, aber ihre Ehe hat von Anfang an unter keinem günstigen Stern gestanden. Sie waren gerade zwei Monate zusammen, als sie so abrupt auseinandergerissen wurden." Ray senkte nachdenklich den Blick. "Eine Sache bereitet mir noch große Sorgen."

      "Welche?"

      "Rawanni war fest entschlossen Lukes Mörder zu fassen."

      "Sie glauben, sie könnte Collins vielleicht töten?"

      "Nein, sie würde niemals zu einer Mörderin werden, aber sie könnte sich in große Gefahr begeben. Collins würde nicht davor zurückschrecken sie zu erledigen. Es wundert mich, dass sie noch nichts unternommen hat, aber sie kann sich aus verständlichen Gründen nicht an die Polizei wenden. Möglicherweise ist auch der Schmerz noch zu groß … ihr fehlt vielleicht einfach die Energie."

      "Dann weiß sie sicher, wo Collins ist", überlegte Al.

      "Ja, das wäre durchaus möglich. Al … ich würde sie gerne sehen. Vielleicht sagt sie es mir."

      "Das wäre keine gute Idee, Ray, denn sie soll noch nicht wissen, dass ich ihr Geheimnis kenne. Wenn sie erfährt, dass ich sie überprüft habe, wird möglicherweise ihr bisschen Vertrauen zu mir zerstört. Ich möchte sie dazu bringen mir alles von sich aus zu erzählen. Nur so wird es für uns beide vielleicht eine Zukunft geben."

      "Ja, Sie haben recht. Gewinnen Sie ihr Vertrauen, dann wird sie Ihnen sagen, wo er ist. Rufen Sie mich an, falls Sie es erfahren sollten. Wenn wir ihn endlich verhaften könnten, gäbe es vielleicht eine Chance, Rawannis Unschuld zu beweisen. Hier ist meine Nummer." Ray gab ihm seine Visitenkarte. "Außerdem würde ich gerne wissen, wie es ihr geht."

      "Ja, wir bleiben in Kontakt. Danke, Ray, dass Sie so offen zu mir waren."

      "Ich danke Ihnen, Al. Ich weiß jetzt, dass Rawanni bei Ihnen in guten Händen ist."

      Die beiden Männer verabschiedeten sich und Ray fuhr erleichtert zurück nach Washington.

      Al ging ins Department. Da nichts Dringendes vorlag, machte er pünktlich Feierabend, um schnell wieder bei Rawanni zu sein, denn er freute sich jedes Mal unbändig, wenn er sie sah.

      Das Wetter blieb ungemütlich. Immer wieder schneite es, daher verbrachte Rawanni die nächsten Tage weiterhin in Als Wohnung und abends in seiner netten Gesellschaft.

      Al fiel es schwer nicht über ihre Probleme reden zu können, aber er hielt es im Hinblick auf eine mögliche gemeinsame Zukunft für besser, wenn sie den Anfang machte. Manchmal glaubte er, sie taute etwas auf, dann aber wirkte sie wieder verschlossen und in sich gekehrt. Ihr Geheimnis gab sie nicht preis.

      In der Nacht vor Weihnachten wurde Al durch einen Schrei aus dem Schlaf gerissen. Er rannte hinüber ins Gästezimmer — Rawanni wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Dann ein erneuter Schrei: Sie saß kerzengerade mit vor Schreck geweiteten Augen im Bett.

      Er schaltete die Nachttischlampe an und nahm sie behutsam in die Arme. "Ganz ruhig", sagte er und streichelte über ihren nassen Rücken. Sie zitterte und atmete heftig. "Es war nur ein böser Traum."

      Sie fing an zu schluchzen, während der Kopf an seiner Schulter ruhte. Nur langsam beruhigte sie sich.

      "Geht es wieder?"

      Sie nickte und legte sich zurück aufs Kissen. Er blieb noch sitzen und strich über ihre Haare.

      "Ich weiß nicht, wie lange ich es noch ertragen kann", murmelte sie mit schwacher Stimme und erneute Tränen liefen über ihre Wangen.

      Er ging auf die Bemerkung nicht ein, es war nicht der richtige Zeitpunkt zum Reden. "Soll ich hier bleiben?", fragte er. "Nur zum Anlehnen", fügte er schnell hinzu. Sie nickte. "Du solltest dir vorher aber ein frisches Hemd anziehen, dieses ist vollkommen nass. Ich werde inzwischen die Bettwäsche wechseln."

      Sie ging ins Bad und wusch sich kurz, während Al sich um das Bett kümmerte. Er war einfach rührend.