immer wieder von Wolken überzogen wurde.
An einem Gehölz hielt er an. Es grenzte an eine der schwarzstruppigen Brachen, die hierzulande üblich geworden waren, weil man die Bodenfruchtbarkeit für zu gering hielt, nicht einmal Gras wurde gesät, um Vieh zu weiden. Aussortiert wie er auch diese Flächen. Er ging durch das Gehölz. Etwas außerhalb stand ein Bäumchen. Die Blätter gelb leuchtend. Ein kleiner Ginkgo, der ihn schon um Längen überragte. Wie wäre es ... ?, hatte Norbert gesagt und gelacht. Er hörte jetzt wieder seine männliche Stimme und sah, wie er die Augen zuzog, Spott darin, Zynismus, auch Übermut. Wie wäre es, wenn du einen Baum pflanzt. Hier in der Einöde. Ein Mann soll einen Sohn zeugen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen. Söhne haben wir zu viel. Häuser ..., Norbert hatte angewidert den Mund verzogen und dann auf die um die Dörfer wuchernden Siedlungen verwiesen. Aber ein Baum, das wäre es doch! Wieder hatte er gelacht. Kalt, umbarmherzig war Norbert in der Zeit der Ablösung gewesen, hatte ihm nie gesagt, ob er die Nacht wegblieb oder nicht, so dass er sich im Warten aufgezehrt hatte. Heute verhielt er sich anders. Er, dem es selbst dreckig ging, dachte sich Dinge für ihn aus, die ihm Mut geben sollten. Und er nahm jeden Hinweis Norberts an wie ein Geschenk. Das Verhältnis hatte sich umgekehrt. Norbert jetzt der, der ihn beriet, auf den er hörte. Er wollte sich der Zuneigung wert erweisen. So war er tatsächlich in die Baumschule gefahren. Etwas Besonderes hatte es sein sollen. Ein Ginkgo wurde ihm angeboten. Er dachte an das Gedicht des Altmeisters, an die riesigen Bäume auf dem Hof der Humboldt-Uni. Er hatte sich ausbedungen, dass Norbert den Baum mit ihm gemeinsam pflanzte. Wenn du solchen Wert darauf legst!, hatte Norbert gesagt und wieder sein Grinsen im Gesicht gehabt. Etwas seltsam war es gewesen, wie sie ein Loch in die Erde gruben. Als ob sie ihrer Liebe ein Grab aushoben. Gleichzeitig aber sollte auf diesem Grab wachsen, das weit in die Zukunft zeigte. Eines Jahres, wer weiß, hatte Norbert mit seiner schönen Stimme gesagt, wir weilen schon lange nicht mehr unter den Lebenden, dann ist das ein mächtiger Baum. Die Leute wundern sich und staunen, wie der hierher gekommen ist. Er hatte laut und lange gelacht, was sowohl herzlich wie zynisch klang. Es soll ein Zeichen sein, was meinst du? Seither beobachtete er den Himmel, ob es genug regnete, nahm oft Wasserkanister mit. Sieben Jahre hatte der Ginkgo schon überlebt, war Stück um Stück gewachsen, erstaunlich schnell für diese Art von Baum. Er betastete die Blätter, sprach das Gedicht des Altmeisters vor sich hin, das sich auf die Zweiteilung des Blattes einen Vers machte. Es sah aus, als müsse er sich nicht mehr sorgen um dieses Bäumchen. Er nahm den Fotoapparat aus der Hülle, suchte sich seinen gewohnten Platz, drückte auf den Auslöser, trug auf einer kleinen Pappe das Datum und die Aufnahmenummer ein. Seit Jahren fotografierte er nichts mehr anderes als von Zeit zu Zeit diesen Ginkgo. Eines Tages würde er nach dem Vorbild von Max Skladonowski ein Büchlein fertigen mit Fotos von dem Baum. Blätterte man schnell, konnte man ihn wachsen sehen. Der Baum nicht das Werk von ihm und seinem Freund, soviel Hochmut hatte er nicht. Aber immerhin, sie hatten ihm Platz gegeben und er hatte ihn, war es notwendig, mit Wasser versorgt. Weiter fuhr er. Eine Bahnlinie überquerte er in stark verlangsamtem Tempo. Vielleicht hatte Norbert den Zug genommen. Die Abfahrtzeiten kannte er ja. Mehr als einmal hatte er auf dem Bahnhof gewartet und gesagt: Ich dachte, ich überrasche dich. Nein, im Ernst, ich bin erst heute früh auf die Idee gekommen. Es war mir zu dumm, dich noch anzurufen.
Keine Spur von Norbert. Natürlich nicht. Dass er doch immer noch etwas erwartete! Dass er doch immer noch Hoffnungen hatte! Er fuhr in den üblichen Waldweg, stellte sein Auto ab, stieg aus und begann zu laufen. Sein Tempo gleichmäßig. Er hatte eine bestimmte Route. Manchmal schaffte er sie, ohne anzuhalten und eine Weile zu gehen, manchmal musste er Pausen einlegen. Er war ein recht guter Läufer, was man ihm sicher nicht zutraute. Ein trauriger Büromensch mit zwei linken Händen, so war sein Bild von sich. Man sah ihm nicht an, dass er weder immer ein Trauerkloß gewesen war, noch ungeschickt, noch ein schlapper Büromensch. Er lief sich in eine Freude, in ein Bewusstsein von eigenem Wert, von eigener Kraft hinein. Das leistete er sich möglichst einmal in der Woche. Nicht im nahen Stadtpark, sondern ganz allein hier draußen im Barnimschen Land. Er war eben für das Besondere. Noch immer lief er, schob die Pause hinaus, die er heute wohl einlegen müsste.
Seit einiger Zeit hörte er Schritte hinter sich. Ein anderer Läufer war wohl aus einem Nebenweg eingebogen. In ihm wuchs die Gewissheit: Norbert war es. Norbert, der ihn mit einem lässigen, guten Tag auch, junger Mann!, überholen wollte. Er zog sein Tempo an. Noch gönnte er Norbert den Triumph nicht. Der Freund konnte ihn ja rufen. Doch er rief nicht. So blieb es ein Wettlauf, ein Kräftemessen zwischen einem sechzigjährigen und einem zweiundvierzigjährigen Mann. Er dachte nicht mehr daran, was die Ärzte nach seinem letzten unerklärlichen Zusammenbruch vor eineinhalb Monaten gesagt hatten. Alle Gedanken aus ihm heraus bis auf den einen, der Freund hinter ihm. Er eine Laufmaschine, die prächtig funktionierte. Ja, merkwürdig, Kräfte wuchsen ihm zu. Immer schneller wurde er. Doch der Freund immer weiter hinter ihm. Irgendwo würden sie beide zusammenbrechend sich umarmen. Eh, lass mal gut sein, würde der Freund dann sagen. Mit einem Mal trat ihm ein Bild vor Augen. Ein übergroßer Baum, in ganzer Pracht von leuchtend gelben Blättchen, zwei gespalten. In dieses Bild mischte sich das einer nicht ganz jungen Frau mit weichen Gesichtszügen, das dunkle Kleid hochgeschlossen. Das muss ich dir erzählen, Norbert, sagte er. Ich bin angekommen. Er fühlte die Hand des Freundes an seinem Gesicht. Er lächelte. Er war wohl hingefallen. Zum Aufstehen war er zu müde. Doch dann stand er auf und begann zu fliegen. In diesen herrlichen Baum hinein auf die Frau zu, seine Großmutter.
Noch am selben Abend fand die Polizei auf der Waldstrecke den Körper eines Mannes, Mitte, Ende fünfzig, glatzköpfig, mittelgroß, athletisch kräftige Figur. Ein Lächeln im Gesicht. Ein Jogger hatte angerufen, seinen Namen allerdings nicht angegeben. Doch da man von einem natürlichen Tod ausging, maß man diesem Umstand keine weitere Bedeutung bei. Nach einigen Tagen wurde er in Zusammenhang mit einem Wagen gebracht, der nahe einer Bahnstation in einem Waldweg geparkt war. Anhand der Papiere wurde der Tote identifiziert und schließlich ein Bruder ausfindig gemacht, der die Identität bestätigte und den Freund des Toten benachrichtigte.
Freund und Bruder betraten die Wohnung. Sie sah aus wie für eine Abreise hergerichtet. Er war penibel darin, erklärte der Freund. Sieh mal, sagte der Bruder und deutete auf eine Wand: In drei Reihen untereinander ein Baum in wechselnder Jahreszeit und offenbar immer größer werdend. Unser Baum, sagte der Freund. Ich hab ihm etwas geben wollen, woran er sich halten kann.
So ein Tod im Laufen, das soll was Schönes sein, sagte der Bruder. Ich wollte, mir würde das passieren.
Man muss eben einen guten Freund haben!, sagte der andere und in seinen Augen, die sich zu leicht verengten, stand nichts als Trauer.
In Gott oder so!, sagte der Bruder verstehend. Er arbeitete neuerdings bei einer kirchlichen Behörde.
Nenn es, wie du es willst, sagte der Freund.
EIN DUFT VON ROSEN
Noch immer dieser Duft von Rosen!
Er rollte sich nach vorn ab, wieder zurück, mehrere Male hintereinander, legte die Beine gestreckt über sich, dass sie den Boden berührten. Seit Jahrzehnten immer die gleichen Übungen, die sowohl seinen Körper gelenkig hielten, wie seine Sinne vor dem Einschlafen beruhigten. Der Flur bot genügend Platz. Früher waren die Männer, die sich seine Frau einlud, manchmal im Dunklen über ihn gestolpert, über ihn, diesen kleinen schmalen Mann, der sich nackt diesen Bewegungen zuwendete, unbeirrt, was im Zimmer seiner Frau geschah. Er hatte nichts gegen die Männer, die seine Frau einlud. Sie gingen ja bloß auf das ein, was ihnen angeboten wurde. Auch seiner Frau nahm er es nicht übel. Sie sah zu gut aus. Sie war Opfer ihres Aussehens. Sie hatte keine Möglichkeit zu widerstehen, folgte blindlings dem, was ihr verheißen wurde, sah darin wahrscheinlich eine Anerkennung ihrer Person. So hatte er es sich nach und nach zusammengereimt. Denn sie war durchaus nicht sexbesessen. Heute Abend hatte er am Anfang ihrer Ehe gesagt, damit sie sich vorbereitete, freute. Doch sie hatte sich nie gefreut, obwohl er ihr einen ganzen Tag Gelegenheit dazu gegeben hatte. Was also trieb sie zu den Männern? Sie wollte Anerkennung! Etwas anderes konnte es nicht sein. Er hatte heulend, dem Zusammenbruch nahe, schließlich zurückgefunden in die Zeit vor ihr, in der er sich selbst genügt hatte. Niemals würde er wieder unter einem Menschen leiden, das hatte er sich