dich immer bis an die Grenzen der Belastbarkeit führen. Du wirst Großes erreichen, aber es wird dich vieles kosten, das dir lieb und teuer ist. Schwere Aufgaben und Entscheidungen warten auf dich. Zygal und ich tun unser Bestes, um dich darauf vorzubereiten. Ich wünschte nur, du würdest es dir nicht selbst so schwer machen und deine Fluchtpläne endlich aufgeben. Oder denkst du wirklich, wir wüssten nicht, dass du nur darauf wartest, dass wir einen Fehler machen? Darauf, dass wir dich lange genug aus den Augen lassen, damit du einen Baum fällen und fliehen kannst – so, wie die Angreifer es dir vorgemacht haben.«
Kyla konnte Olha kaum anblicken, so sehr schämte sie sich in diesem Moment für ihr Vorhaben. Aber Olha ließ sich nicht erweichen und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Denkst du wirklich, es war Zufall, dass sie dir diesen Weg aufzeigten? Sie wollen nur, dass du ihn benutzt, um dich zu töten, solange du noch nicht deine ganze Kraft entfaltet hast. Aber sie werden dich nicht in die Finger bekommen, solange Zygal und ich es verhindern können. Also vergiss deine Fluchtgedanken und nutze lieber die Chancen, die wir dir bieten. Nimm unseren Schutz und unser Wissen an, solange dir die Möglichkeit dazu noch bleibt.«
»Was meinst du damit?« Kyla war völlig verwirrt von all den Dingen, die Olha ihr gesagt hatte, aber die winkte nur ab: »Lass uns jetzt Schluss machen für heute. Das lange Sitzen ist für mich ungewohnt. Normalerweise bin ich immer mit etwas beschäftigt und die meiste Zeit auf den Beinen. Mein Hintern ist schon ganz platt.« Sie lachte plötzlich, stand auf und rieb sich den genannten Körperteil, aber Kyla hatte den bekümmerten Blick bemerkt, den ihre Frage bei Olha ausgelöst hatte.
Als Kyla in dieser Nacht zu Bett gehen sollte, legten Zygal und Olha ihr keine Kette an. »Lass uns nicht bereuen, dass wir dir unseren Schutz gewähren«, mahnte Olha, dann zogen sie und Zygal sich in ihr eigenes Schlafzimmer zurück.
Kyla hörte die beiden noch lange miteinander tuscheln, bevor ihr Gespräch abbrach und schließlich in rhythmisches Stöhnen überging. Kyla sah aus dem Fenster, das in dieser Nacht ebenfalls zum ersten Mal unverhüllt geblieben war. Sie fragte sich, ob es dumm war, nicht zu fliehen, oder ob es schlau war, sich nicht unberechenbaren Feinden auszusetzen, sondern bei Zygal und Olha zu bleiben. Bei ihnen hatte sie immerhin bis jetzt überlebt. Und sie halfen ihr, Dinge zu erlernen, die ihr noch nützlich sein konnten. Kylas Lider wurden langsam schwer – sie schloss sie. Im Halbschlaf erinnerte sie sich daran, dass die Chyrrta, die ihr so freundlich gesonnen schienen, in ihrem Kopf unbedingt Feinde bleiben mussten. Denn wenn sie sie einmal soweit hatten, dass sie ihnen vertraute, dann würde sie nicht mehr fliehen wollen. Und dann wäre es mit der Freiheit vorbei. Kyla begann sich zu fragen, was genau diese Freiheit eigentlich war, der sie so hinterher trauerte. War es das tägliche Hungern? Oder die Parasiten, die sich in ihrer Haut einnisteten? War es die ständige Suche nach Wasser, das verträglich war und sie am Leben erhielt? Vielleicht war es aber auch die Einsamkeit, die sie so vermisste. Als sie ein lautes Furzen aus dem Nebenraum hörte, entschied sie in ihrer Müdigkeit, dass es tatsächlich die Einsamkeit war, die ihr so sehr fehlte.
Dass sie nun mit anderen Chyrrta unter einem Dach leben musste, war für sie unerträglich. Und dann fiel ihr Olhas Lächeln ein, und Zygals Mühen, ihr einen Parcours aufzubauen, auf dem sie abwechslungsreich trainieren konnte. Kyla dachte darüber nach, wie glücklich die beiden sein konnten, dass sie einander hatten. Nur einen kurzen Augenblick lang gestand Kyla sich ein, dass sie es angenehm fand, nicht mehr einsam zu sein, sondern nun zum Leben dieses Paars zu gehören. Dann schlief sie ein.
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