Heinz-Joachim Simon

Aufstand in Berlin


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sie wohl heute von mir denkt, fragte er sich, nachdem sie hinausgegangen war und stand auf und ging zum Schrank und öffnete ihn und sah sich in dem Spiegel an, der an der Innenseite der Tür angebracht war und rieb sich das Gesicht.

      Eigentlich habe ich mich gut gehalten, dachte er. In den letzten beiden Jahren war er ein wenig fülliger geworden. Aber dies stand ihm gut, gab ihm etwas Gesetztes, etwas Vertrauenerweckendes. Singer hatte ein fleischiges Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen. Die durchdringenden grauen Augen unter der hohen Stirn wirkten energischer als er sich tatsächlich empfand. In dem dunkelblauen Anzug sah er sehr seriös und erfolgreich aus. Ein Herr. Das war aus ihm geworden. Dabei war es doch gar nicht so lange her, dass er mit langem Haar und engen schwarzen Hosen und einem knallroten Pullover ins „Zuntz“ zum Stelldichein gegangen war.

      2

      Der Mann war wie ein Fels. Ein hochgewachsener schwerer Mann. Übergewichtig, optimistisch und selbstbewusst. Meistens wirkte er unerschütterlich. Eine Eigenschaft, die für einen Aufsichtsratsvorsitzenden sehr wichtig war. Obwohl sein Kinn angriffslustig hervorstach, wusste Singer nur zu gut, dass es ein Glaskinn war. Er hatte ihn schon öfter zögerlich und schwach erlebt. Schweißperlen glitzerten dann auf seiner Stirn, sein Atem ging schwer, er lief rot an und seine Stimme lag einige Tonlagen höher. Aber auf den ersten Blick wirkte Manitu wie ein Mann, der jedes Schiff sicher in den Hafen bringen konnte. Er strahlte Kraft aus und die Aktionäre fühlten sich sicherer, seit er dabei war. Die gefurchte hohe Stirn suggerierte Gedankentiefe. Ein italienisches Gesicht, fand Singer. Helen hatte es mit Mussolini verglichen.

      „Schön, dass wir uns mal außer der Reihe sehen können“, fing er an, nachdem die Sekretärin den Kaffee vor ihn auf den Tisch gestellt und das Zimmer verlassen hatte. Breitbeinig in dem Sessel sitzend, mit gefalteten Händen vor dem Bauch, schweifte sein Blick durch das Büro.

      „Schön haben Sie es hier. Ich wollte, unsere Zentrale säße nicht in Frankfurt, sondern auch an so einem schönen Platz wie dem Gendarmenmarkt.“

      „Ja. Den Singers gehörten hier schon vor dem Krieg etliche Grundstücke. Nach der Wende haben wir natürlich sofort unsere Ansprüche geltend gemacht.“

      „Es ist ein riesiger Schatz, wenn man auf eine alte Tradition zurückgreifen kann. Der Name Singer ist so wertvoll wie die Namen Krupp, Siemens, Bosch und Mercedes. Ikonen deutschen Unternehmertums. Umso bedauerlicher die Entwicklung der letzten Zeit.“

      „Wir hatten schon öfter mal Schwächephasen und sind dann noch stärker daraus hervorgegangen.“

      „Wie geht es der Frau Gemahlin?“, fragte der Aufsichtsratsvorsitzende, ohne auf Eugen Singers Einwand einzugehen. Er lächelte dabei, was Anteilnahme ausdrücken konnte. Die Augen jedoch blieben kalt.

      Auf dem deutschen Presseball hatte Manitu mehrmals mit Helen getanzt. Keine andere Frau war so oft von ihm aufgefordert worden. Singer fand damals, dass sie ein wenig zu eng miteinander tanzten. Helen hatte auf seine Bemerkung hin geantwortet, dass sie auch nichts dafür könne, dass der gute Breitschmidt so ein „Ranschmeißer“ wäre. Aber er war nicht eifersüchtig gewesen. Nicht wirklich. Schließlich war es nicht schlecht, wenn der Große Manitu ein wenig scharf auf seine Frau war.

      „Sie können sich denken, wieso ich zu Ihnen gekommen bin!“, kam Manitu auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen. Das Lächeln war verschwunden, und die Stimme wurde hart und kalt. Singer nickte gelassen und lächelte freundlich, und der Aufsichtsrat lief rot an.

      „So geht das wirklich nicht mehr weiter, Singer!“ polterte er nun los. Die Hände vor dem Bauch hatten sich gelöst und die Rechte fiel schwer auf den Tisch.

      „Am Ende des Jahres droht ein Desaster. Dauernd melden sich die Aktionäre bei der Bank und fragen, ob sie die Aktien noch halten sollen und Philadelphia Steel nutzt dies kräftig aus. Wenn die so weitermachen, schlucken die eines Tages die Singerwerke und das zu einem Spottpreis.“

      Er starrte Singer anklagend an.

      „Wir kommen da wieder raus. In diesem Quartal könnte es schon wieder besser aussehen“, erwiderte Singer ruhig. Es klang nicht einmal nach einer Entschuldigung.

      „Sie machen sich etwas vor, Singer! Es ist kein Konjunkturproblem. Das habe ich Ihnen schon letztes Jahr nach der Bilanzpressekonferenz gesagt.“

      Breitschmidt stand auf, ging ans Fenster und sah hinunter auf den Gendarmenmarkt. Aber Singer wusste, dass Manitu nicht dessen Schönheit bewunderte. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Eine dramatische Pause, um ihm Angst einzujagen.

      Der Aufsichtsratsvorsitzende drehte sich langsam um und musterte Singer finster.

      „Sie haben Fehler gemacht. Sie haben versäumt, Restrukturierungsmaßnahmen einzuleiten.“

      „Sie meinen, ich sollte Entlassungen vornehmen“, übersetzte Singer dessen Worte.

      „Jawohl. Alle tun es. Alle specken ab und verlegen die Produktionsstandorte nach Übersee. Wenn wir Deutschland wieder voranbringen wollen, dann sind solche Maßnahmen unumgänglich. Natürlich ist es betrüblich für die Menschen. Keine Frage. Aber sagen wir es deutlich: Deutschland ist nur noch als Ingenieurs– und Konstruktionsbüro wettbewerbsfähig. Die Globalisierung verlangt von uns, dass wir uns weltweit etablieren und da produzieren, wo wir dies zu wettbewerbsfähigen Preisen können.“

      Da war es wieder. Globalisierung. Die Lieblingsentschuldigung ratloser Industrieführer. Und als einzige Medizin fiel ihnen ein mitzuspielen und die Produktionsstandorte nach Thailand, Indien oder China zu verlegen, Arbeitsplätze also dorthin zu verschieben, wo man den Profit maximieren konnte.

      „Es wird ernst, sehr ernst, Singer. Forsten Sie den Laden durch, schmeißen Sie die raus, die nicht spuren und die zu alt sind. Machen Sie die Singerwerke jung und schlank und kümmern Sie sich um strategische Partnerschaften im Ausland oder, noch besser, um Produktionsstandorte in Lohnniedrig–preisländern. Wir sind uns im Aufsichtsrat einig, dass nun gehandelt werden muss!“

      Soweit waren sie also schon, dachte Singer. Es geht um meinen Kopf. Bei früheren, viel geringfügigeren Vorwürfen war er nervös geworden. Heute war er so gelassen, als erzählte ihm Breitschmidt seine Krankheitsgeschichte.

      „Michael Singer, unser Hauptaktionär, stimmt mit mir überein, dass wir den Produktionsstandort Deutschland erhalten wollen. Wir sind ein deutsches Unternehmen mit Schwerpunkt in diesem Land. Und wir sind stolz darauf, dass wir nie entlassen haben, selbst wenn es einmal kriselte.“

      „Ach, Singer, kapieren Sie es doch endlich! Es geht ums Eingemachte. Wenn die Aktie nicht steigt, übernimmt uns Philadelphia Steel für ’n Appel und ‘n Ei.“

      „Noch haben die Singers die Aktienmehrheit. Wir werden nicht verkaufen.“

      „Da seien Sie sich mal nicht so sicher. Thomas Singer war bei mir und wollte meinen Rat. Er überlegt schon nicht mehr, ob er verkauft, sondern nur noch wann er verkauft. Ich habe ihn beruhigt, dass er dies erst einmal zurückstellen soll.“

      „Bis die Aktie gestiegen ist?“

      „Natürlich. Man gibt ein Juwel wie die Singerwerke nicht für einen Bettel weg.“

      Breitschmidt ging es nicht um den Erhalt der Singerwerke, sondern nur darum, dass vor allem seine Bank, die ein gehöriges Aktienpaket hielt, ein besseres Geschäft machte. So einfach war das.

      „Wir haben unser Personal bereits durch natürlichen Abgang reduziert. Wir kommen auch in Deutschland durch. Ich bin nicht dazu bereit, das Lebenswerk von Generationen wegzuwerfen, nur weil die Aktionäre die Nerven verlieren.“

      „Mann, Singer, alle tun es.“

      „Ich bin nicht bereit das zu tun, was meine verantwortungslosen Kollegen in anderen Unternehmen tun. Es ist natürlich der einfachste Weg, nur noch in Billiglohnländern zu produzieren. Wir Singers denken nicht an einen kurzfristigen Vorteil. Es gibt genug Beispiele, dass es auch anders geht. Was soll aus diesem Land werden, wenn wir es so herunterwirtschaften, dass keine Arbeitsplätze mehr da sind. Unsere Menschen können nicht alle Konstrukteure,