Heinz-Joachim Simon

Aufstand in Berlin


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den freundlichen Eindruck. Die kühn gebogene Nase und der dunkle Hautteint gaben dem Alten etwas Fremdländisches. Er erinnerte ihn ein wenig an Georges Moustaki. Der Alte trug einen dunklen Mantel mit einer Kapuze, einen Dufflecoat, wie er in England bei den Studenten üblich und auch in Deutschland in den sechziger Jahren einmal Mode gewesen war. Vielleicht lag es an der Kapuze, dass Singer bei dieser Begegnung den Eindruck hatte, dass der Alte in diesem Aufzug einem Mönch glich.

      „Warum sollte ich unglücklich sein?“, hatte Singer unwillig gefragt.

      „Ja. Warum? Du bist gut gekleidet und dieses Hotel ist sicher nicht billig. Du hast bestimmt eine schöne Frau, ein Haus und die Sonne scheint. Warum solltest du unglücklich sein? Aber du siehst so aus.“

      „Glück ist immer relativ!“, hatte Singer hilflos geantwortet.

      „Richtig!“, hatte der Alte ihm beigepflichtet. „Aber wenn du nicht glücklich bist, wer sollte es dann sein? Es liegt an dir. Ändere dein Leben, ändere alles, denn es ist zu kurz, um unglücklich zu leben.“

      „Bist du denn glücklich?“, hatte Singer gefragt.

      Erst später wurde ihm bewusst, wie absurd die Situation gewesen war. Er im dunklen Anzug und mit Helens Einkaufstüten vor dem Luxushotel und ihm gegenüber der seltsame Alte, der wie ein Mönch aussah. Wilfried hatte ihm einen fragenden Blick zugeworfen, ob er den Alten verscheuchen sollte und Singer hatte den Kopf geschüttelt.

      „Oh ja!“, war die Antwort des Alten gewesen. „Ich habe in der Suppenküche in Friedrichshain einen guten Eintopf bekommen. Es ist ein wunderschöner Tag, und die Frauen sehen heute aus wie Melodien in einem Violinkonzert oder wie Gemälden von Chagall entsprungen. Oben am Kronprinzenpalais spielen zwei Russen Vivaldi und Mozart. Vielleicht liegt es daran, dass ich die Frauen wie Melodien durch die Straßen schweben sehe. Warte mal, vielleicht gefällt dir das Lied.“

      Der Alte spitzte den Mund und fing an zu pfeifen. Eine Melodie aus „Vier Jahreszeiten“. Singer war kein großer Musikkenner, aber diese Melodie kannte er.

      „Was kann einem Schöneres passieren als an einem Samstag dieses Lied zu hören und die Sonne scheint und die Frauen lachen glücklich“, fuhr der Alte fröhlich fort.

      „Deswegen bist du glücklich“, stellte Singer spöttisch fest.

      „Ja. Das Wichtigste sind natürlich die Frauen, die wie Melodien durch die Straßen schweben“, ergänzte der Alte schmunzelnd.

      „Frauen, die wie Melodien durch die Stadt schweben. Auf so etwas muss man erst einmal kommen“, erwiderte Singer amüsiert. Der Weißbärtige lächelte zurück.

      „Wenn man aufpasst, sieht man jeden Tag etwas, was einen glücklich machen kann. Man muss nur den Willen haben, es zu sehen, zu hören und zu riechen. Ja, riech doch einmal!“

      Der alte Mann schloss die Augen und zog hörbar die Luft ein.

      „Ah, wie gut das tut. Es riecht nach französischem Parfum, nach Menschen, die alles haben, die eigentlich glücklich sein müssten. Dieses Hotel ist wohl sehr teuer.“

      „Es ist ein Fünfsternehaus“, erwiderte Singer. Er fand, dass es hier in der Charlottenstraße, dicht am Gendarmenmarkt, allenfalls nach Benzin roch, und war ein wenig traurig darüber, dass er nicht die gleichen Sinneseindrücke hatte wie der Alte.

      „Eine Insel der Reichen, ein Camelot, nicht wahr?“

      „Du hast wirklich eine lebhafte Phantasie!“, staunte Singer und war beeindruckt, welches Wissen und welchen Wortschatz der Alte hatte.

      „Natürlich, Phantasie gehört zum Leben. Was würden wir ohne sie tun? Die Menschen hätten keine Häuser, keine Kleider und nicht einmal Gebete. Sie würden noch in Höhlen leben. Schade, dass du dein Glück nicht erkennen kannst. Aber es ist verständlich. Ein unglücklicher Mensch ist allein und lebt in einer dunklen Kammer. Ich hoffe, dass du sie eines Tages verlässt und glücklich wirst.“

      Helen war mit dem Wagen erschienen und Singer hatte die Einkaufstüten aufgenommen.

      „Ein schönes Auto“, sagte der Weißbärtige noch. „Du bist noch ärmer dran als ich dachte. So reich zu sein und dann nicht glücklich. Was muss denn noch geschehen, damit deine Augen wieder leben?“

      Singer hatte die Frage nicht beantworten können, da Helen hupte, und er hatte dem Alten noch kurz zugenickt und war in den Wagen gestiegen. Aber diese Frage hatte ihn die ganze Zeit während der Fahrt nach Hause beschäftigt. Auch die Tatsache, dass er keine Antwort gewusst hätte. Helen hatte ihn gefragt, ob der Alte ihn angebettelt habe. Singer hatte dies verneint und nur ganz allgemein von einer interessanten Begegnung gesprochen. Seine Frau hatte ihn daraufhin erstaunt angesehen. Noch einige Tage war die Frage des Alten durch seine Gedanken gegeistert. ‚Was muss denn noch geschehen, damit deine Augen wieder leben?‘ Diese Frage tauchte immer wieder zwischen anderen Gedanken auf. Doch schließlich hatte er den Alten vergessen.

      Nun, zwei Wochen später, war ihm bewusst, dass der Alte etwas mit dem zu tun hatte, was mit ihm passiert war und noch immer passierte. Und er freute sich über diese Wiederbegegnung und ging auf den Weißbärtigen zu, der ihm lächelnd entgegensah. Vor ihm auf der Erde lag ein verbeulter Hut, in dem einige Geldstücke lagen.

      „Erinnerst du dich noch?“, fragte Singer den Alten.

      „Durchaus. Du bist der reiche Mensch, der nicht glücklich ist.“

      „Ist denn für dich heute wieder ein glücklicher Tag?“, fragte Singer und wies auf den Hut mit den wenigen Geldstücken. Sein Gesicht drückte aus, dass er das Glück des Alten nicht hoch einschätzte.

      „Aber gewiss“, antwortete der Weißbärtige. „Es sind fast acht Euro in meinem Hut. Es gibt schlechtere Tage. Ich werde mir nachher ein Hühnchen leisten können, und zu einem Glas Wein wird es auch noch reichen. Es ist durchaus ein glücklicher Tag. Sieh dort drüben nur das Pärchen an. Wie sie sich glücklich zulachen und der Akkordeonspieler hier vor dem Buchladen spielt einen Walzer nach dem anderen.“

      Auf einmal erschien es Singer, als wäre der Tag wirklich außergewöhnlich schön, als sei er anders als alle vorangegangenen Tage und seine Bedrückung, seine Unzufriedenheit war verflogen. Es war ihm schon lange nicht mehr aufgefallen, dass die Stadt voller glücklicher Menschen war.

      „Dein Blick klärt sich auf!“, sagte der Weißbärtige zufrieden und musterte Singer wohlwollend.

      „Deine Stimmung färbt ab.“

      „Man sieht es dir an!“ bestätigte der Alte. „Du musst daran arbeiten. Nur noch eine kleine Anstrengung und du wirst die Welt mit anderen Augen sehen.“

      „Es scheint tatsächlich so, dass man Glück nur mit Anstrengungen erreichen kann.“

      „Alles will gelernt sein“, bestätigte der Weißbärtige ernst; er bückte sich und hob seinen Hut auf, nahm das Geld heraus und steckte es in die Manteltasche.

      „Wenn du nichts vorhast, laß uns ein Glas Wein trinken. Ich lade dich ein.“

      Singer war über diese Einladung zwar überrascht, doch dann dachte er daran, wieviel sich an diesem Tag bereits ereignet und für ihn verändert hatte, und weil er bisher mit niemandem darüber gesprochen und den Eindruck hatte, dass der Alte viel über das Glück wusste, sagte er zu.

      „Gut. Aber ich lade dich ein.“

      „Einverstanden. Du hast schließlich mehr Geld als ich, „ sagte der Alte schlicht und hakte sich bei Singer ein.

      „Komm. Wir gehen zu Szandors Altdeutscher Bierstube, einer guten Kneipe am Alexanderplatz, unter den Arkaden, die noch aus der DDR–Zeit stammen. Dort bekommt man einen anständigen Wein, der nicht zu teuer ist.“

      Singer sah wohl die Blicke, die ihnen zugeworfen wurden. Vor Tagen hätte er sich noch geniert, mit dem Alten gesehen zu werden. Doch jetzt waren ihm die verwunderten Blicke gleichgültig.

      Es passiert immer noch. Alles wird anders, dachte er, staunend darüber,