Thomas Freitag

Montag Nachmittag ging ich nach Vollersroda


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Jimi Hendrix geschrieben. Unter der Überschrift „Born To Be Wild. In Memoriam Jimi Hendrix“ wurde berichtet, wie die Schüler sich in die Thematik eingearbeitet hatten. Sie hatten kleine Zeitungsnotizen auf Hendrix gesammelt, Teile aus Hendrix-Titeln dazu gesetzt und so eine Collage aus Text und Musik komponiert, die sie BeatOrium nannten. Matze fand das faszinierend. Beatmusik in der Verbindung mit Mitteln des Oratoriums, des geistigen Gedenkens und Erinnerns nicht an Christus, sondern an die Leiden dieses Rock-Musikers. Mein Gott, was man alles in einem engagierten Musikunterricht machen konnte. So wollte es Matze auch einmal anstellen. Weil es in die Zeit passte, weil damit Schüler gepackt werden konnten. Tatsächlich antwortete der Lehrer Wolfgang Siebert aus Esslingen und auf diese Weise entwickelte sich der Kontakt - eine freundschaftliche Verbindung zwischen Deutschland Ost und Deutschland West. Zeit ging ins Land.

      Siebert ging wohl als Lehrer an die deutsche Schule nach Spanien oder sonst wohin, aber eines Tages war er mit seiner Familie, mit Frau und Baby zu Besuch in Weimar. Genauer gesagt, Matze quartierte ihn ein in Vollersroda. Ein paar Besuchstage beim Lehrer im Osten und ihm wurde der Wunsch erfüllt, die Briefe Feiningers in die Hand zu bekommen. Es war für Lehrer Matze eine Offenbarung. Eine solche Künstlerbiografie – und er konnte ganz unmittelbar nachvollziehen, dass das alles sozusagen vor seiner Haustür und ganz in der Nähe stattgefunden hatte. Ein Weltgeist wehte durch Vollersroda, Feininger war da und Matzes Seelenleben schwang sich auf zu neuen Höhen. Arglos ging er mit seinem Besuch um, die hatten ihr großes fremdes Auto am Dorfplatz geparkt. Lehrer Matze machte sich wenig Gedanken, dass da etwas Aufsehen entstanden war.

      In Feininger erkannte Matze so etwas wie eine geistige Orientierung. Diese Korrespondenzen zeigen helle Fixpunkte, er konnte die Arbeit des Bauhaus-Meisters verstehen, auch die Beklemmungen und Beschränkungen nachvollziehen, denen die Feiningers aufgrund der politischen Zustände in Deutschland ausgesetzt waren. So nahm er Feininger-Briefe immer und immer wieder zur Hand und las darin. Er meinte auch, dass sich Geschichtsverläufe so oder so wiederholen oder ähneln konnten. „Man müsse das alles nur hin und wieder einmal erinnern“, dachte Matze, „und es würden sich viele Irrwege gesellschaftlicher Entwicklung verhindern lassen“. Lehrer Matze meinte, „alles war schon einmal da.“ Vielleicht müsste alles nicht immer erneut in Irrtümer, Wirrnisse und Kriege münden.

      3 Bauhaus Weimar, Lehrer Matze in Vollersroda

      Gropius wollte zum Handwerk zurück. Der mittelalterliche Dombau, die Dombauhütte, so als gedachtes Ideal. Im April 1919 teilte Gropius alles dem Weimarer Hofmarschallamt mit und man wünschte die sofortige Berufung der Künstler Feininger, Johannes Itten, Cesar Klein und Gerhard Marcks an das neu gegründete Bauhaus.

      Feininger sah die Sache praktisch. Er sah, welche neue Chancen sich eröffneten. Er hatte schon während der Kriegszeit mit seinen Holzschnitten experimentiert. Also würde er zum hochfliegenden Bauhaus-Programm auch wieder einen Titelholzschnitt beisteuern. Seine Kathedrale der Zukunft, was für ein Bekenntnis. Kathedrale und Zukunft und Sozialismus – mit diesem weitgreifenden Denkansatz konnte Feininger zugleich seine schöne Eigenwilligkeit demonstrieren. Er war Erster Lehrer am Staatlichen Bauhaus in der Klassikerstadt Weimar! Julia in Berlin las … Aber, weisst Du das Allerherrlichste? das ist das neue Atelier! … Der gute Gropius! er hats mir gleich gegeben. Überhaupt, war er überall mit mir in der Schule und ich habe auch den Kupferdruck-Raum gesehen! Oh herrlich! Weisst Du, wir werden hier wie im Malerhimmel sein! … Verschiedene Schüler … haben uns gesehen und wissen nun wohl auch Bescheid…

      Ein Malerhimmel über Weimar? Als Matze eingezogen war, fühlte er sich dem Himmel von Vollersroda ein Stückchen näher und war nur ein paar Kilometer vom hellen Weimarer Kunsthimmel entfernt. „Ist das mein Atelier hier?“, überlegte er.

      Feininger bekam jetzt viele neue Kontakte. Andere Maler waren da, ebenso interessierten ihn Musiker des Weimarer Hoforchesters. Aber dann dieses Gelmeroda… Schon bei seinem allerersten Besuch in der Stadt, als Julia noch auf der Großherzoglichen Kunsthochschule war, fuhr er raus nach Gelmeroda. Er besuchte Julia, das war jetzt über zehn Jahre her, damals schon fuhr er raus und sah diesen spindeldürren Kirchturm von Gelmeroda. Diese ausgefallene Proportionalität und Architektur. Er würde Gelmeroda nie wieder vergessen. Aber er war damals auch in Tiefurt, Oberweimar und Vollersroda.

      Um Vollersroda herum bekam es Feininger beständig mit neuen Poesien und Fantasien zu tun. Er erzählte sich selbst Geschichten, eine um die andere, er genoss die weitläufige grüne Landschaft, er entdeckte, dass einst hier schon Goethe durchgekommen war. Lebendig war ihm der Ort, die Menschen, die er dort traf. Zum Beispiel Frau Hoevelmann. Die wohnte eigentlich in Legefeld, sie war aber auch in Gelmeroda und Vollersroda und Mellingen unterwegs, als ob sie genau wüßte, dass da der Feininger irgendwo herumsitzen und zeichnen würde. So war sie unter Leuten, war lebendig. Im schlimmsten Falle schienen die kleinen thüringischen Ortschaften in finsterem, beinahe mittelalterlichem Zustand dahinzudämmern. Bei schlechtem Wetter allemal.

      Ja, Feininger konnte wieder gut laufen nach all den Jahren. Von Weimar aus die Belvederer Allee hoch, am Schloss und Schlosspark vorbei, an Neuehringsdorf vorbei, den Lindenberg zur rechten Seite, dann links ab auf Vollersroda. Wirklich erstaunt war er, wie gut er laufen konnte. Und wenn er keine Lust hatte, war ihm sein Fahrrad, sein Cleveland-Rad, willkommen. Das teilte er Julia mit und sie gab ihren drei Jungen das Gefühl, dass sie bald alle nach Weimar gehen und den Papa wiedersehen würden.

      Über viele Jahre hin lebte Feininger mit seiner geliebten Frau in einer Art Fernbeziehung. Er schrieb ihr diese vielen Briefe nach Berlin, legte Ansichten über sein künstlerisches Schaffen dar und erfuhr von seinen kleinen Söhnen Andreas, Laurence und Lux.

      Nur manchmal begegnete er der Frau Hoevelmann, die mitunter auch ganz fürsorglich war. Die konnte durchaus Feiningers verhaltende Miene, sein In-sich-gekehrt-sein etwas auflockern. Mitunter beugte sie sich neugierig über seine Natur-Skizzen, sie brachte es sogar einmal fertig, dem Maler irgendwo am Ende einer ablaufenden Gasse einen Teller Suppe zu organisieren. Meist brauchte der Mann aus Weimar aber unbedingte Ruhe.

      4 Feininger mit großen Plänen

      Die halbe Nacht hatte Matze sich um die Ohren geschlagen und das riesige Werk der Feininger Briefe studiert. Er las und las und las. Was da alles zu entdeckten und zu erfahren war über Lyonel Feiningers Leben und Schaffen. Wie selbstbewusst der Künstler sein Leben gestaltete, wie er um künstlerischen Ausdruck in seinen Bildern rang, wie er sich selbst auch immer wieder verbessern oder korrigieren konnte. Und, dass Feininger auch versuchte, sich aus dem tagespolitischen Geschehen herauszuhalten, was freilich nicht immer gut gehen konnte.

      Julia wusste am meisten von seiner Kunst, konnte ihren Mann als utopischen Sozialisten verstehen. Aber Feininger schrieb auch an viele ihm nahestehende Kunstgaleristen, an Förderer seiner Malerei und verehrte Freunde. Matze überlegte, wie Feiningers Werdegang in seiner Kunst tatsächlich ausgesehen hatte. Er verdiente gut und regelmäßig an seinen Satiren. Aber, wenn er es recht besah, musste er auch seine besten Arbeiten immer wieder erklären, erläutern, sie wurden oft missverstanden. Da lernte er Julia im Frühjahr 1905 kennen, beide trennten sich von ihren bisherigen Ehepartnern und erkennen, dass nur sie, Julia und Lyonel, Lyonel und Julia für einander da sein würden. Und in Paris dann der Entschluss, sich ganz und ernsthaft und für nichts anderes in der Welt der Kunst zu widmen, ein Wendepunkt in Feiningers Leben. Julia schreibt er… mir geht eine Zukunft allmählich auf, ich werde nicht umsonst gelebt haben… Es war auch klar, dass er fortan in Kontakt kam mit anderen ernsthaften Künstlern und sich anregen ließ. Feininger erkennt sich selbst als Maler, durchdringt die Gesetze der Natur neu, beschäftigt sich mit Licht, Hell, Dunkel und ihren Graden gegenseitiger Durchdringung wieder und wieder und findet zu seinen Ton- und Bildstrukturen. Die Brücke-Leute, vor allem Schmidt-Rottluff – mit ganz neuen Welten des künstlerischen Schaffens sieht er sich konfrontiert und er schafft für sich ein unumstößliches Fundament eigener Kunst. Dann der Herbstsalon bei Herwarth Walden, 1913. Der Sturm-Kreis wird eine für Feininger überaus glückliche Fügung. Ihn beeindruckte die Ausstellung als bedeutende deutsche Kunstausstellung und er war dort erstmals selbst mit fünf Ölgemälden vertreten.