Thomas Freitag

Montag Nachmittag ging ich nach Vollersroda


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geschrieben, wie anregend er beispielsweise Fensterspiegeleien, das Spiel von Hell und Dunkel, nebst allen Spektralien, fand. Damals hatte er geschrieben: … Fenster spiegeln, unten gähnend und dunkel; oben silbern und ganz oben, in den Höhen, wo sie den blauen Himmel widerstrahlen, sind sie tiefblau...

      Julia hatte das verstanden. Fast 15 Jahre sind seitdem vergangen und er teilte jetzt mit … Ein Genie bin ich wirklich nicht, gerade das Malen war vielleicht das Allerschwerste und ich musste erst mit 45 Jahren reif werden.

      Die Sujets, die er sich suchte und die sich nicht erst in diesen Jahren seinem Blick öffneten, waren Fenster, Brücken und Viadukte, Seestücke, Wolkenbildungen, der stille Tag am Meer. Feininger eroberte sich ein neues prismatisches Raumgefühl, er denkt nach über Licht- und Farbvolumen.

      Blickte Matze aus seinem Schlafzimmerfenster auf die Straße war er unwillkürlich an Feiningers Atelierfenster erinnert. „Es muss ein ungeheures, neues Lebensgefühl für den Maler gewesen sein, als er dieses Gemälde fertigte. Ein Aufbruch damals.“ Jetzt, so viele Jahre später, war der junge Lehrer Matze hier – und der hatte andere Sorgen. Ab und zu kam ein Traktor durch den Ort gefahren und wenn es gerade vorher geregnet hatte, war die Straße unangenehm von der lehmigen Spur der Fahrzeuge gezeichnet. Noch anderes passierte, was Matze regelmäßig von seinem exponierten Ausguck beobachten konnte. Sie pflegten im Ort eine uralte, archaische Tradition. Einmal in der Woche, Donnerstag- oder Freitagabend, klingelte die Gemeindedienerin mit einer kleinen Handglocke die Straße entlang, um dann an der Kirche stehenzubleiben. Dort verlas sie allgemeine Nachrichten, die für die Dorfbewohner von Belang sein konnten. „Kohlenkarten können ab Mitte der kommenden Woche im Gemeindeamt abgeholt werden“. Oder: „Es ist darauf zu achten, dass Hühner und Gänse nicht frei in die angrenzenden Felder laufen.“

      Meist waren es drei oder vier Nachrichten, die da verlesen wurden, ein ganz besonderer Dienst von der Gemeinde an die Bewohnerinnen und Bewohner. Es gab zwar irgendwo auch eine Anschlagtafel im Ort, aber diese ausgerufenen Nachrichten waren immer aktuell und sozusagen von Mensch zu Mensch übermittelt. Die Glocke schellte einmal im Unter- und einmal im Oberdorf, dann wurde verlesen.

      Auch eine eher unangenehme Erinnerung hatte der Lehrer mit dem, was er von seinem Fenster aus sehen konnte. Der unwillkürliche, freie Einblick ins gegenüberliegende Gehöft führte an einem späten Herbsttag die Schlachtung eines Hausschweines anschaulich vor Augen. Das arme Tier, fettgefüttert und nichtsahnend, wurde in den Hof gelassen einzig zum Zweck, es dort von zwei anwesenden Bauern und dem herbeigerufenen Metzger zu töten. Matze war unfreiwilliger Beobachter, er sah wie ein Bolzenschussgerät dem Tier auf die Stirn gesetzt worden war, es alsbald umfiel und abgestochen wurde. Sie zogen es dann an seinen Hinterläufen schräg nach oben, befestigten es an der Scheunenwand und veranlassten seine weitere Bearbeitung. So etwas wie ein hochgelegenes Atelierfenster im Dorf zu haben, hat seinen Preis.

      7 Matzes Schulbeginn 1975

      Schulbeginn war immer am 1. September. Der Weltfriedenstag, der Anti-Kriegstag. Weil an diesem Tag im Jahr 1939 die deutsche Wehrmacht ohne vorherige Kriegserklärung Polen überfiel und damit der Zweite Weltkrieg begann. Es sollte ein Schwur wachgehalten werden, nie wieder in einen künftigen Weltkrieg zu steuern. Matzes nervöser Magen rebellierte an diesem Tag. Aber es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, einen Arzt aufzusuchen. So viel Arbeit wartete.

      Vollersroda war erst nur provisorisch eingerichtet, d.h. seine Wohnung im Alten Schulhaus hätte noch sehr viel mehr Aufmerksamkeit verlangt, aber die neue Zentralschule in Legefeld wartete mit großen Herausforderungen. Matze ging mit Freude an die neue Arbeit, er wollte dazu gehören und überhaupt die vielen kleinen und großen Schüler, die da auf ihn blicken würden. Sie alle sollten von den Schönheiten der Musik erfahren, durch ihn. Vielleicht musste er sich Maler Feininger verbunden fühlen, als der erstmals nach Weimar kam und berichtete, wie er sich auf alles freue, was seine Frau ihm über die Stadt, die Steinbrücke über die Ilm, von Oberweimar und umliegenden Dörfern schon erzählt hatte.

      Jetzt war Matze Friedrich wirklich Lehrer, mit 21 Jahren der Jüngste im Kollegium und ausgebildet für die Klassen 1 bis 4. Aber man traute ihm zu, sämtlichen Musikunterricht bis hoch zur 10. zu übernehmen. Vor allem traute er es sich selbst auch zu. Er hatte doch eine Reihe von besten Empfehlungen von seiner Ausbildung am sächsischen Lehrerbildungsinstitut erhalten. Weil Musiklehrer immer fehlten, hatten sie sogar empfohlen, er könne nach dem Fachschulstudium sofort weiter zu einer Hochschule, einer Universität gehen, um für die höheren Klassen ausgebildet zu werden. Aber dann hieß es, es wäre zunächst eine zweijährige Schulpraxis nötig. Egal. Matze war gewillt, sich in seine Arbeit zu stürzen, engagiert und mit dem Einsatz aller Kräfte.

      Die edle musikpädagogische Linie in seiner Familie! Der Vater als Professor da an der Musik-Hochschule - der Sohn wollte da mithalten. Vier lange Jahre Lehrerbildungsinstitut, Matze meinte, er sei durchaus gut ausgebildet worden, er spielte Cello, Klavier, Singen konnte er ohnehin wie selten jemand. Aber die Hauptfächer waren Deutsch und Mathematik und dann hatte alles irgendwie trotzdem ein Niveau provinzlerischen Neulehrertums. So fünfziger und frühe sechziger Jahre, die der Arbeiter- und Bauernstaat an den Grundschulen konservieren wollte. Königliches Lehrerseminar, das war ja die Vorgängereinrichtung des Lehrerbildungsinstituts, ein mächtiger Bau. Damals schon weit ab vom städtischen Großbetrieb, da wo sie sicher sein konnten, dass da getreue Schulmänner und noch getreuere Schulfrauen heranwachsen würden.

      Einmal, erinnerte sich Matze, hatte sein Vater ihn spitz gefragt: „Wie denn? Ihr lernt noch die Beschlüsse dieser Bitterfelder Konferenzen? Der „Bitterfelder Weg“, irgendwelche schreibkundige Arbeiter ins Milieu der Intelligenz zu überführen? Das ist ja völlig veralteter Stoff heutzutage.“

      Na ja, Vater hatte gut reden an seiner Hochschule, dachte sich Matze. Aber in diesem drögen Lehrfach „Kulturpolitik“ hatten sie gern mal was Neues und Inspirierendes lernen wollen. Das passierte aber nicht. Student Matze legte dann aus Trotz eine Abschlussarbeit vor und die hatte zum Inhalt den Werdegang der Liverpooler Band „The Beatles“. Eine kleine Sensation, aber es passte in die Zeit und der betreuende Dozent wagte es nicht, etwas zu kritisieren und vergab als Note: Sehr gut.

      Erinnerungen, was sind Erinnerungen? Sie können barbarisch den Menschen ganz zum Stillstand bringen, wie ein Inferno sich in den realen Lebensverhältnissen ausbreiten. Oder sie können Klarheit schaffen über Vergangenes.

      Es gab zum Schulbeginn einen feierlichen Appell. Es war nicht einfach nur Schulbeginn, immerhin wurde die Polytechnische Oberschule Legefeld ihrer Bestimmung übergeben. Schüler und Kollegen waren angetreten, der Direktor und eine Pionierleiterin hielten Reden, die Weimarer Schulaufsicht war da. So genau interessierte sich Matze für das Procedere nicht, denn er war dafür zuständig, zwei oder drei kleine Lieder, jeweils zwischen den Redebeiträgen und am Schluss des Appells zu bringen. Dafür hatte er schnell eine Singegruppe auf die Beine gestellt. Andere Lehrer und besonders überfleißige Lehrerinnen hatten in Tagen vor der Schuleinweihung zu tun mit dem Schmücken von Klassenzimmern, dem Ordnen von blauen Halstüchern oder der Absicherung des Mittagessens für die Kinder. Das war seine Sache nicht, davor konnte Matze sich drücken. Er ahnte damals schon, ein Musiklehrer, das ist etwas Besonderes an der Schule, der würde für ausgewählte Aufgaben zuständig sein. Ein Musiklehrer kann im normalen Schulbetrieb ganz viel beitragen zum öffentlichen Ansehen oder aber, sollte er das nicht packen, würde das Fach belächelt und der arme Kollege hätte einen schweren Stand.

      Mit Liedern hatte es Matze immer zu tun, schon seit seiner Kindheit. Bevor er in der Schule war, so berichteten sie es immer wieder, konnte er alle Lieder, beinahe das komplette Schulliederbuch, singen. Er erkannte an Bildern im Buch die jeweiligen Lieder und sang alles munter dahin. Oft begleitet vom Vater am Klavier, auch öffentlich.

      Später standen populäre Lieder dann hoch im Kurs. Es war der Glaube an die aktivierende, aufrüttelnde Kraft von Songs, Liedern, Balladen, Popsongs. Diese Vorstellung von der erweckenden, treibenden Kraft von Liedern bei der Gestaltung von Gesellschaft war in Ost wie in West weit verbreitet. Im Osten wurde solche Vorstellung zugespitzt zur Losung „Lieder sind Brüder der Revolution“. Damit wurden zwar die bestehenden Gesellschaften keineswegs verändert, aber