Thomas Pfanner

Johann Gabb


Скачать книгу

beobachtete das hektische Treiben und konnte sich nicht vorstellen, bei einer solchen Truppe mitzumachen. Ungarn hatte, wehrtechnisch betrachtet, auf ihn verzichtet. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges mussten Deutsche in Ungarn nicht mehr zwangsläufig zu den Waffen, nur noch auf freiwilliger Basis, und so blöd wäre er niemals. Obwohl es in der k.u.k.-Monarchie üblich gewesen war, die Deutschen in ungarische Verbände zu stecken und die Ungarn in österreichische Truppenteile, was die Volksgruppen tatsächlich einander näher gebracht hatte.

      »Was glaubst du, Johann, werden sie uns einziehen?«, fragte ihn der Wissinger Hans aus der Gruppe heraus. Alle starrten ihn erwartungsvoll an, als ob er die Macht hätte, das Unausweichliche einfach wegzureden.

      »Wissinger«, begann er sanft, musste seinen Satz erneut beginnen, lauter und dadurch härter, um sich gegen den Lärm verständlich machen zu können. »Wissinger, wegen was sollen die denn sonst herkommen? Um uns gegen die Russen zu verteidigen? Die können noch nicht mal ihr eigenes Land richtig verteidigen. Bei uns gibt es doch nichts zu holen, keine Reichtümer und keine Waffen. Ungarn ist arm. Aber wir haben hier etwas, was die Deutschen unbedingt brauchen. Deutsche, die man zu Soldaten machen kann.«

      Der Wissinger und die anderen Männer starrten ihn entsetzt an. Johann staunte ernsthaft über die Naivität der Leute. Wo sie sich doch bereits seit Wochen jeden Abend die Köpfe heiß redeten, in der Gaststätte, direkt neben der Kirche. Selbst der Ortspfarrer hatte in seiner Predigt vor den kommenden Gefahren gewarnt. Offenbar glaubten die Leute, dass die Gefahr sie nicht sehen würde, solange sie sich weigerten, die Gefahr zu sehen.

      »Gabb«, sprach ihn der Strasser Josef förmlich an. »Vielleicht sind sie wegen der Juden da. Du weißt, die Kinder von der Landverschickung haben diese Sachen erzählt. Arbeiten bis zu Vergasung und so. Vielleicht nehmen sie die Juden mit und verschwinden dann wieder.«

      Johann seufzte tief. Eine Gefahr allein wäre eine unverdiente Vergünstigung gewesen. Nicht nur, dass sich Ungarn nun offiziell im Krieg befand, und zudem ganz ohne Frage von den Russen überrannt werden würde. Mit allen Folgen, die das für die deutsche Bevölkerung haben konnte. Nicht nur, dass er selbst in eine Uniform gepresst werden und vermutlich nicht lebend davon kommen würde. Zu allem Übel würden die Deutschen alle Juden abtransportieren.

      Das Ende von Mágocs in seiner historischen und bewährten Form wäre unabwendbar. Seit zwei Jahrhunderten lebten Deutsche an diesem Ort. Sie waren die Ersten gewesen, sie hatten das Land rekultiviert, nachdem es die Türken entvölkert und verdorben hatten. Kurz darauf jedoch waren die Juden gekommen, in sich gekehrte aber freundliche Menschen, die sich durch die gleiche Tatkraft und den gleichen Fleiß wie die Deutschen hervor taten.

      Eine Weile später begann der Zuzug der Ungarn. Draußen in den Höhlen lebten dann noch die Zigeuner, die in der Regel jeden Kontakt mit den Einwohnern mieden, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Im Großen und Ganzen verliefen die Jahrhunderte friedlich, bis auf die Kriege eben. In Mágocs selbst aber herrschte stets Frieden unter den Bewohnern. Nach hundert Jahren blutigem hin und her und dem Sieg über die Türken fanden die Kämpfe stets woanders statt. Und nun das. Er ahnte, nein, er wusste, diese Nacht würde das Ende des Friedens bringen. Für alle Zeiten. Düstere Vorahnungen jagten sich vor seinem geistigen Auge. In diesem Moment brachte er nicht die Kraft auf, seiner Antwort einen diplomatischen Anstrich zu geben.

      »Strasser, mach doch einfach die Augen auf«, bellte er über das Aufheulen eines Radpanzers hinweg. »Das ist die ganze verdammte deutsche Armee. Alles, was sie noch haben. Die wollen in der ungarischen Tiefebene eine riesige Schlacht veranstalten, bei uns, hier. Die bauen uns keine Loge, reißen freundlich die Platzkarten ab und wünschen viel Spaß beim Zuschauen. Die brauchen uns als Kanonenfutter. Wir sind die Idioten, die mit einem Gewehr in der Hand vorwärts stürmen sollen, um den Russen aufzuscheuchen.

      Die geben uns keine Panzer und keine Flugzeuge, nur Gewehre. Und weißt du auch warum? Die haben nicht genug Waffen. Sieh dich doch um. Ein Haufen Leute, aber keine schweren Waffen. Das, was sie haben, verstecken sie ängstlich. Die sind am Ende. Zum guten Schluss dürfen wir beim finalen Sterben mitmachen. Die Juden nehmen sie mit, vielleicht die Zigeuner noch dazu. Die Ungarn dürfen die Felder bestellen, damit wir noch was zu fressen haben, bevor wir ins Gras beißen. Wenn dann alles vorbei ist, kommt der Russe und greift sich unsere Familien.«

      Schwer atmend hielt Johann inne. Er achtete nicht auf die versteinerten Gesichter seiner Zuhörer. Die Erwähnung seiner Familie versetzte ihm einen Stich ins Herz, so scharf, dass er kaum Luft bekam.

      Die Endzeitstimmung löste sich auf und machte tiefer Besorgnis Platz. Gleichzeitig wurde sein Kampfgeist geweckt. Er fühlte die Entschlossenheit in sich wachsen. Er würde alles versuchen, die Seinen heil aus diesem Schlamassel herauszuholen. Wobei er absolut keine Ahnung hatte, was auf ihn zu kam und auf welche Weise er sich aus dem Schlamassel befreien könnte. Der Wissinger stieß ihn in die Seite und deutete verstohlen nach links. Von dort näherte sich ein Soldat.

      »Deutsche oder Juden?«, fragte der Soldat barsch. Womit die Frage nach den Zielen der Deutschen bereits ein Stück weit beantwortet war.

      »Gut«, fuhr der Soldat etwas weniger barsch fort, als er die Antwort bekam, es mit Deutschen zu tun zu haben. Er sah kurz auf einen kleinen Zettel.

      »Alle deutschen Männer im Alter von achtzehn bis vierzig Jahren haben sich morgen früh um Punkt acht Uhr Ortszeit vor der Kirche zu versammeln. Wer nicht erscheint, wird als Fahnenflüchtling behandelt. Sorgen Sie dafür, dass jeder diese Nachricht erhält.«

      Der Soldat machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf die andere Straßenseite, wo ein paar Ungarn dem Treiben zusahen.

      »Na, Strasser, alle Fragen beantwortet?«

      Johann blickt den Mann ausdruckslos an. Der Strasser war der reichste Deutsche im Ort, erstmals in seinem Leben würde ihm dieser Umstand nichts nützen. Johann freute sich kein bisschen. Strasser nickte nur stumm, wie allen anderen Anwesenden gingen ihm ungute Gefühle durch den Kopf.

      »Na, dann lasst uns mal zu unseren Familien gehen und Abschied halten. Diese Nacht wird die vorerst Letzte sein, in der wir bei unseren Lieben sein können.«

      Einige nickten stumm, andere wandten sich einfach ab und trotteten nach Hause. Für Johann wurde die leichte Steigung zum Haus hinauf eine Art Bergbesteigung. Als er ankam, keuchte er, sein Herz raste und er wäre am Liebsten weggelaufen.

      Buisdorf

      Ich bin überfordert. Natürlich bin ich bestens geeignet, meinen Großvater zu versorgen und zu betreuen. Ich bin Altenpfleger und spezialisiert auf Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Aber es ist mein Großvater, Herrgott! Sein Geist erscheint im Augenblick so glasklar und präsent, wie meiner nie sein wird. Das erschüttert mich mehr, als ich sagen kann. Denn eigentlich ist er dement.

      Morgens ist er ganz fit, macht Scherze, isst und trinkt und findet rechtzeitig die Toilette. Gegen Abend verdunkelt sich sein Geist, man kann es ihm regelrecht ansehen. Das Gesicht verhärtet, die Blicke schweifen ins Weite, er wird hektisch und beginnt zu suchen. Dann läuft er weg. Meist finde ich ihn hier, im Gras sitzend, über dem Flusslauf der Sieg mit bestem Überblick über die Autobahn und die unendlich hässlichen Hochspannungsmasten. Hübsch hässlich habt ihr es hier, würde Heinz Rühmann sagen.

      Mein Großvater sagt nichts dergleichen. Immerhin ist mir klar, dass er im Geiste seine, unsere Umgebung verlassen hat. Er ist auf einer Zeitreise, unterwegs durch seine Vergangenheit. Er irrt umher, jeden Abend, auf der Suche nach einem Einstieg in Ereignisse und Begebenheiten von früher. Die Lichter der Autos, die bis zum Horizont diesen Perlschnur-Effekt erzeugen, sind der heutige Kristallisationspunkt, der Einstieg in eine Szene, die er damals durchlebt hat. Nunmehr durchlebt er sie aufs Neue, mit allem Drum und Dran, die Emotionen von damals flackern über sein Gesicht, der Körper ist angespannt, die Hände verkrampft. Seine sonst eher verwaschene Aussprache ist präzise und dynamisch, fast so dramatisch wie bei einem dieser Sprecher im Fernsehen, wenn sie derlei Ereignisse kommentieren.

      Soweit ist mir alles klar. Nur, wie soll ich reagieren? Offenbar nimmt er mich wahr, erkennt mich als nicht zu dem gerade, also damals Erlebten gehörig. Ich bin sein Fenster zur